Migration: Tatsachen und ihre Ursachen, Wahrnehmungen und ihre Folgen 

Von Wolfgang Bergsdorf 

Corona hat die Migration von ihrem langjährigen Spitzenplatz der Aufmerksamkeit verdrängt ©seppspiegl

In den Zeiten der Corona-Pandemie haben sich die Schwerpunkte auf der politischen Agenda der Regierenden weltweit ebenso verschoben wie die Wahrnehmungen der vordringlichen Probleme durch das jeweilige Publikum. Besonders gut ist in Deutschland zu beobachten, wie das Vitus in der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit die Migration (also die Zuwanderung vor allem aus den Kriegs- und Krisengebieten) von ihrem langjährigen Spitzenplatz verdrängt hat. Zwar sind die Eckdaten der Migration – auch das ist der raschen „Globalisierung“ der Seuche geschuldet – im Jahr 2020 deutlich zurückgegangen. Aber bis zum Jahresende dürfte sie wohl auf 150 000 Asylanträge anwachsen. Im Vergleich zu 2015/16 ist das ein deutlicher Rückgang. Die Schutzquote liegt heute bei 42 Prozent. 2019 lag sie noch bei 38 Prozent von 184 000 Entscheidungen. 

Globalisierung als Auslöser

Immerhin spiegeln sich die aktuellen Problemlagen im Nahen und Mittleren Osten in den Herkunftsländern der Asylbewerber des Jahres 2020: Mit 32 000 steht Syrien nach wie vor an der Spitze, gefolgt vom Irak mit 11 000. Afghanistan und – bemerkenswerterweise – die Türkei liegen mit jeweils 8 000 Asylanträgen gleichauf. Weil jedoch Corona heute so stark im Fokus der Öffentlichkeit steht, wird so der Blick abgelenkt von den Ursachen und Folgen der Migration.

Migration ist ein elementarer Bestandteil jener Prozesse, die durch die jüngste Globalisierungswelle ausgelöst werden. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass grenzüberschreitende ökonomische Aktivitäten, internationale Kommunikation und gegenseitige zwischenstaatliche Abhängigkeiten deutlich zugenommen haben und dies weiterhin tun. Hinzu kommt die Liberalisierung des Welthandels durch Marktöffnungen und Deregulierungen. Damit ist natürlich auch die Verbreitung westlicher Ideen und Wertvorstellungen verbunden. Besonders deutlich zu erkennen ist das an drei Mega-Themen – Klimawandel, Armut und Migration. Dieses Problemdreieck kennzeichnet die Perspektiven der Globalisierungs-Verlierer. 

Moderne Völkerwanderungen 

Der Begriff Migration (lat. migratio, Wanderung) bezieht sich auf die Bewegung von Menschen über längere Strecken ©seppspiegl

Der Begriff Migration (lat. migratio, Wanderung) bezieht sich auf die Bewegung von Menschen über längere Strecken. Migration ist immer mit Verlustgefühlen, Ängsten, Schmerz, Zwang und oft auch mit Tod verbunden. Die Wissenschaft unterscheidet zwischen internationaler Migration und Binnenmigration, wobei mit Letzterer Wanderungsbewegungen innerhalb eines Nationalstaates gemeint sind. Den Vereinten Nationen zufolge gab es 2015 weltweit 240 Millionen internationale Migranten. Für das gleiche Jahr wird die Zahl der Binnenmigranten auf 740 Millionen geschätzt. Angesichts solcher Zahlen kann wohl getrost von „modernen Völkerwanderungen“ gesprochen werden.

Die Ursachen für Menschen, ihre Heimat zu verlassen, sind relativ leicht auszumachen. Im Grunde sind es drei Komplexe: der Wunsch nach einem besseren Leben (ökonomische Motivation), das Bedürfnis, grundlegende Freiheitsrechte einschließlich der Familienzusammenführung zu genießen (menschenrechtliche Motivation) und die Notwendigkeit, militärischer Gewalt zu entkommen oder  – vermutlich in Zukunft verstärkt – sich vor den zerstörerischen Folgen des Klimawandels zu retten (Sicherheitsmotivation).

Der Zustrom wird zunehmen

Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass der Zustrom der Migranten auf absehbare Zeit nicht nachlassen wird. Denn die Quellen der Motivation werden wohl kaum versiegen: Kriege und Bürgerkriege, politische, kulturelle und religiöse Verfolgung und auch der Wunsch, die eigenen Lebensbedingungen zu verbessern. Die Flucht vor militärischer Gewalt und Vertreibung sind zweifellos die mächtigsten Antriebskräfte. Gefolgt von politischer und religiöser Diskriminierung. Solange mithilfe eines Smartphones Menschen in Afrika und Asien Kenntnisse von den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und sozialen Wohltaten hierzulande erlangen können, wird sich die Zuwanderung nicht wesentlich verringern.

Deutschland steht dabei, ohne Frage, ganz oben auf der Sehnsuchtsliste. Als „Zielstaat“. Nicht allein, aber zuvorderst. Diese „Zielstaaten, indessen, besitzen nur geringe Steuerungsmöglichkeiten für diese Wanderungsbewegungen. Das ist der Hauptgrund dafür, dass „vor Corona“ die Migration eines der beherrschenden Themen war hierzulande war. Und zwar mit teilweise alarmierenden Auswirkungen auf die politische Farbenpalette in Deutschland. Denn, ganz ohne Frage, ist die rechtspopulistische „Alternative für Deutschland“ (AfD) dadurch nach oben gespült worden, dass es ihr gelang, mit Angstbegriffen wie „Überfremdung“ oder „Islamisierung“ erhebliche Zustimmung in der Bevölkerung zu ernten.

Wachsendes Vertrauen?

Fluechtlingskinder aus dem Irak leben im Asyl in der Türkei ©seppspiegl

Das Problem Migration wird sich die Rolle als Streitbegriff künftig wohl im nördlichen Teil Europas mit der Klimapolitik teilen müssen. Dagegen dürfte der dritte Scherpunkt des Problemdreiecks der Globalisierung – die Armut – wird unter den Stichworten soziale Gerechtigkeit und Entwicklungszusammenarbeit keine derart dominante Rolle spielen können. Jedenfalls lässt sich für die jüngsten Jahre feststellen, dass in den USA und in Europa bis 2019 in jedem Wahlkampf das Thema Migration mit im Zentrum der Auseinandersetzungen stand. So haben, zum Beispiel, die Zuwanderer aus Mexiko 2016 den US-Wahlkampf zu Trumps Gunsten ebenso mitentschieden wie die Migranten aus Osteuropa, dem Nahen Osten und aus Afrika sämtliche Wahlkämpfe in den Ländern der Europäischen Union stark beeinflusst haben.

Mittlerweile scheint sich das etwas geändert zu haben. In den zurückliegenden Wahlkämpfen in Deutschland wie auch in den Nachbarländern wird das Vertrauen erkennbar, das die Wähler in ihrer Mehrheit den Regierungsmaßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie entgegenbringen. Das gilt, wenngleich in umgekehrter Weise, auch für den Präsidenten-Wahlkampf in den USA. Das verheerende Management von Corona durch die Administration Trump hat wesentlich zu dessen Abwahl beigetragen und dem Herausforderer Joe Biden einen Vorsprung von mehr als 6 Millionen Stimmen verschafft.           

(wird fortgesetzt)

Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf ist Politikwissenschaftler in Bonn

 

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