Als Separatisten das Rheinland zu einer „Unabhängigen Republik“ machen wollten

 Von Gisbert Kuhn

Blick auf den Drachenfels

 Das Siebengebirge – kaum eine andere Landschaft am Rhein hat die romantischen Maler des 19. Jahrhunderts so verzückt  wie die Ansammlung vulkanischer Kuppen am Auslauf der Kölner Bucht am rechten Ufer des Stroms südlich von Bonn. Und auch heute noch ziehen Namen wie Petersberg, Drachenfels oder Ölberg Jahr für Jahr Scharen von Touristen und Naturfreunden an. Mit Steinen aus dem Siebengebirge hatten schon die Römer ihre Kastelle und Stützpunkte entlang des Stromes errichtet. Und nicht zuletzt der Drachenfels lieferte das Material für den Kölner Dom, dessen Türme bei klarem Wetter von hier oben deutlich zu erkennen sind. Zudem ist die Region ein wahres Dorado für Wanderer und Ausflügler.

Zahlreiche Tote und Verwundete

Man muss daher schon mit sehr aufmerksamen Augen und wachen Sinnen die Gegend durchstreifen, um zu erkennen, dass diese Idylle keineswegs immer so ungetrübt war.  Vor genau 100 Jahren, Mitte November 1923 nämlich, tobten im Westen Deutschlands erbitterte, regelrecht kriegerische Auseinandersetzungen mit zahlreichen Toten und Verwundeten – die heftigsten davon ausgerechnet im lieblichen Siebengebirge. Sogar die New York Times berichtete seinerzeit von den blutigen Ereignissen unter der Schlagzeile „Die Schlacht bei Ägidienberg“. Noch heute spricht man in den ringsum liegenden Dörfern und Städtchen von den „Separatisten“ oder auch den „Sonderbündlern“, deren Angriffe am 15. Und 16. November 1923 von Bauern und Steinbrucharbeitern mit Schrotflinten, teilweise aber auch nur mit Äxten, Säbeln, Knüppeln und anderen „Waffen“ abgewehrt wurden. Nicht zuletzt diese Niederlage leitete schließlich das Ende der seinerzeit durchaus ernsthaft – und nicht zuletzt mit Hilfe der französischen Besatzungsmacht – betriebenen politischen Pläne ein, das Rheinland auf jeden Fall von Preußen, unter Umständen sogar von Deutschen Reich abzutrennen.

„Die Glocke von Oberpleis“

In einer Vitrine im ersten Stock des „Siebengebirgs-Museums“ in Königswinter ist ein metallenes Fragment ausgestellt – ein Stück Bronze, ehemals Teil einer Glocke. Der Besucher muss nicht rätseln, um welches Gusswerk es sich handelt. Denn gleich daneben liegen zwei Bücher mit dem Titel „Die Glocke von Oberpleis“. Sie beschreiben, von den Nazis propagandistisch „aufgenordet“, die Rolle dieser „Sturmglocke“ in der Abwehrschlacht gegen die Separatisten. In Kurzversion:  Als sich bewaffnete Gruppen von Angreifern am 15. November 1923 von Bad Honnef aus durch das Schmelztal den auf den Höhen liegenden Dörfern näherten, wurden dort – wie vereinbart – die Kirchenglocken geläutet. So auch in Oberpleis, wo ein gewisser Theodor Müllenholz („ein großer Mann von kräftiger Statur“, wie eine Chronik berichtet) den Klöppel betätigte. Und dies offensichtlich ein wenig allzu heftig. In den 30-er Jahren wurde die beschädigte Glocke dann in das seinerzeitige „Heldengedenk-“ und heutige „Mahnmal“ auf dem Gelände der eindrucksvollen, aus dem 12. Jahrhundert stammenden einstigen romanischen Probsteikirche St. Pankratius eingefügt. Bei ihrem Guss um das Jahr 1330 war ihr (in Latein) die Inschrift mitgegeben worden: „Ich gehöre den Dörflern, nicht den Mönchen. Man soll mich zum Sturme läuten“.

Nur beim Anti-Preußen-Gefühl einig

Was damals hier im Siebengebirge ablief, fand Entsprechungen in vielen anderen Teilen der damaligen preußischen Provinzen Rheinland und Westfalen. Die weitaus überwiegend katholisch orientierten Gebiete waren nach dem Sieg über Napoleon auf dem Wiener Kongress 1815 dem hauptsächlich protestantischen Preußen zugeschlagen worden. Aber obwohl in der Folgezeit von Berlin aus sowohl in der Verwaltung als auch im rechtlichen Bereich eine Menge „moderner“ Strukturen eingeführt wurden, und obwohl mit erheblicher finanzieller Unterstützung sogar aus der Privatschatulle des Hauses Hohenzollern u. a. die Fertigstellung etwa des Kölner Domes finanziert wurde, hatte man sich am Rhein nie mit den mental so völlig anders gearteten Preußen anfreunden können. Preußen wurde in seinen westlichen Provinzen im Prinzip als Besatzungsmacht empfunden. Diese Antipathie hat sich spürbar bis heute erhalten, wie die vielen zornigen und erbosten Reaktionen aus der Bevölkerung nach dem Hauptstadtbeschluss des Bundestages im Juni 1992 zugunsten von Berlin zeigten.

Vor diesem Hintergrund war es nur logisch, dass diese Einstellung gerade in den Nachkriegswirren der 1920-er Jahre politischen Niederschlag und damit auch Akteure fand. Die Losungen fielen auf fruchtbaren Boden: „Los von Berlin“, „Weg von Preußen“, „Rheinisches Recht für rheinisches Land“, und wie die Parolen  immer lauteten. Nicht zuletzt die katholische Zentrumspartei war dafür der Humus. Wobei es freilich unter den Anführern der „Rebellen“ – abgesehen von der generellen Aversion gegenüber Preußen – nie ein wirklich gemeinsames Ziel gab. In der Frage also: Wollen wir einen völlig unabhängigen Staat, soll man im Verbund des Deutschen Reiches verbleiben, oder aber (auch dafür gab es durchaus Werbung) den totalen Anschluss an Frankreich suchen? Selbst der erste bundesrepublikanische Bundeskanzler, Konrad Adenauer, seit 1917 Oberbürgermeister von Köln, stand dem Gedanken an eine unabhängige „Rheinische Republik“ nach dem Waffenstillstand 1918 zumindest kurzzeitig offen gegenüber. Allerdings wollte er, im Gegenzug, vor allem von der französischen Besatzungsmacht Lockerungen des Friedensdiktats von Versailles erreichen. Und außerdem sollte die neue Republik im Reichsverband bleiben.

Schier unvorstellbare Grausamkeiten

Im Zentrum von Ägidienberg liegt der Ortsfriedhof. Ein gepflegter Platz der Ruhe. Gleich hinter dem Eintrittstor zum Gottesacker befindet sich, nach wenigen Schritten, das Grab von Theodor Weinz. Er war einer von zwei Einheimischen, die bei den Kämpfen Mitte November 1923 getötet wurden. Auf dem schwarzen Marmor steht zu lesen: „Er fiel in den separatistischen Kämpfen von meuchlerischer Kugel getroffen auf seinem Heimatboden für die deutsche Einheit“.  Und wiederum nur ein paar Meter weiter links markiert ein schlichtes, namenloses Holzkreuz ein Massengrab.  Es birgt 14 Leichen – Angehörige der separatistischen „Truppen“, die unweit von dem Friedhof, im heutigen Ortsteil Hövel, den Tod fanden. Vermutlich erbarmungslos mit Beilen erschlagen von kräftigen Steinbrucharbeitern.  Wer die zeitgenössischen Berichte von den damaligen Vorkommnissen liest, kann sich des Schauderns nicht erwehren. Theodor Weinz, zum Beispiel, war von Angreifern gefangen genommen und – an einen Pfahl gebunden – als lebender Schutzschild benutzt worden. Glaubt man den Zeitzeugenberichten, muss die Grausamkeit auf beiden Seiten schier grenzenlos gewesen sein.

Im Massengrab sind 14 Leichen – Angehörige der separatistischen „Truppen“ – beerdigt

Welche Bedeutung die Separatismus-Bewegung und die damit zusammenhängenden gewaltsamen Auseinandersetzungen besaßen, zeigt die Tatsache, dass sie große Unruhe auch innerhalb der (alles andere als fest im Sattel sitzenden) Reichsregierung verursachten. Dem Ende der 40-er Jahre des 20. Jahrhunderts von Ernst von Salomon verfassten Werk „Der Fragebogen“ (eine umfangreiche, mitunter beinahe satirische Abrechnung mit der amerikanischen Politik der Entnazifizierung und “Umerziehung“) ist unter Bezug auf die Vorgänge im Siebengebirge zu entnehmen, dass in Berlin sogar erwogen wurde, Freikorps ins Rheinland zu entsenden. Unter den vielen Erinnerungsstätten im Siebengebirge sticht das Grabmal es damals 18-jährigen Peter Staffel auf dem Friedhof von Eudenbach hervor. Der junge Mann, ein Schmied, wurde erschossen, als er am 15. November ein aus Bad Honnef kommendes und mit Freischärlern besetztes Auto aufhalten wollte.

„Ein armseliger Haufen“

In diesem Fall ist sogar der Täter bekannt.  Es war der Kaufmann Erich Freitag, geboren am 22. Juni 1895 in Elberfeld, verheiratet und ein separatistischer Divisionsführer. Freitag wurde später zu 12 Jahren Gefängnis verurteilt. Tatsächlich galten die bewaffneten Trupps bei den jeweiligen politischen Führungen in Koblenz und Wiesbaden als quasi-militärische Einheiten. In Wirklichkeit aber handelte es sich fast ausnahmslos um ziemlich armselige Haufen – schlecht bewaffnet, schlecht gekleidet und schlecht genährt. Nicht wenige dieser „Soldaten“ stammten aus dem Ruhrgebiet oder anderen Industriezentren, wo sie entweder den Besatzungsmächten – vor allem Frankreich – zuarbeiten mussten, oder wegen des von der Reichsregierung nach der Ruhrbesetzung ausgerufenen Widerstands arbeits- und damit brotlos waren. Zwar bekamen die davon Betroffenen aus Berlin Unterstützungsgelder, für die jedoch keine wirtschaftlichen Gegenwerte existierten. Dies, sowie die Kriegsschulden und die dem Reich aufgebürdeten Reparationslasten führten schließlich in die Katastrophe der Inflation. Der Preis für ein Ei stieg von 0,25 Reichsmark (1918) über 180 RM (Herbst 1922)  bis auf 80 000 000 000 RM (November 1923)…

Das Grabmal es damals 18-jährigen Peter Staffel auf dem Friedhof von Eudenbach

Angesichts dieser Lage ist es nicht übertrieben, in der überwiegenden Mehrzahl der Separatisten-Einheiten kaum etwas anders zu sehen als marodierende und plündernde Trupps. Dazu hatten sie ja sogar die ausdrückliche Erlaubnis ihrer politischen Oberen, die sogenannte Requisitions-Scheine ausstellten – also die Rechtsbescheinigung, um Lebensmittel, Kleidungsstücke, Waffen, ja im Prinzip alles zu beschlagnahmen. Mit anderen Worten: zu plündern. Es waren daher die aus dem Rheintal auf die sieben Berge dringenden, alarmierenden Nachrichten, die vor allem die Bauern von Ägidienberg und den andern Dörfern zu ihren Gegenmaßnahmen bewogen. Freilich, auch hier herrschte zunächst keineswegs allgemeine Übereinstimmung. Denn die dort lebenden (und ebenfalls meist arbeitslos gewordenen) Steinbrucharbeiter dachten nicht im Traum daran, für die “Speckbauern” ohne Gegenleistung den Kopf hinzuhalten. Da mussten die Landwirte schon mal aus den Kellern und Räucherkammern liefern. Dafür, allerdings, haben die kräftigen Steinbrecher dann ordentlich zugeschlagen.

Die „nationale“ Propaganda

Mit Äxten, Säbeln und Knüppeln bewaffnete sich die Heimwehr © Siebengebirgsmuseum

Das klang 10 Jahre später alles radikal anders. Plötzlich sahen sich die tapferen Siebengebirgler zu nationalen Helden stilisiert. Für die Nationalsozialisten war die „Schlacht von Ägidienberg“ so etwas wie der Höhepunkt einer völkischen Erhebung. „In einer Zeit“, schrieb zum Beispiel ein jubelnder patriotischer Zeitgenosse, „da weiteste Teile des Deutschen Volkes noch nicht an eine nationale Wiedergeburt glaubten, da die große Masse unseres Volkes noch nicht reif war dazu, ist dieses Volk aufgestanden und hat eine nationale Tat vollbracht“. Und selbst noch 1983 (mithin 50 Jahre später), als in Ägidienberg-Hövel der dortige Gedenkstein erneuert wurde, kündigte (bis heute) eine Inschrift: „Zur Erinnerung. Kerndeutsche Arbeiter und Bauern vergossen hier auf eigenem Boden in erfolgreichen Abwehrkämpfen ihr Blut zur restlosen Vernichtung der Separatisten am 16. Nov. 1923. Gott verhalf zum Sieg“. Und die „Helden“ selbst? In einem WDR-Fernsehbericht von 1983 kamen noch Zeitzeugen der einstigen Kämpfe zu Wort. Ob sie denn ihren damaligen Widerstand „politisch“ gesehen hätten, wollte der Reporter wissen. „Wie, politisch?“, war die Antwort. „Wenn die (Separatisten, d. Autor) nicht auf die Bauernhöfe in die Dörfer gegangen wären und hätten da requiriert, dann hätten wir die durchgelassen. Aber wir konnten ja nicht zulassen, dass die hier in den Dörfern Vieh ´rausschlachten und das. Dadurch ist das alles gekommen. Wenn die einfach so durchgekommen wären und hätten das nicht alles gemacht, dann hätten wir doch gar nicht Gegenwehr gemacht“.

Es kommt – besonders bei geschichtlichen Ereignissen – halt immer auf den Blickwinkel an.

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.     

 Bemerkungen und Kommentare bitte an gisbert.kuhn@rantlos.de

 

  

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