Die missachtete Mehrheit
Von Günter Müchler
Säulenheilige des politischen Liberalismus wie Alexis de Tocqueville und John St. Mill waren von den Vorzügen der Demokratie überzeugt, warnten aber zugleich vor den Gefahren, die durch eine Diktatur der Mehrheit drohe. Das Thema hat sich nicht erledigt. Allerdings ist in der modernen Demokratie mit ihrem Schutzgürtel von Minderheitsrechten der Machtmissbrauch von anderer Seite weitaus aktueller. Wo bleiben eigentlich die Rechte der Mehrheit? Dass die Frage nicht an den Haaren herbeigezogen ist, zeigt der Verlauf der Corona-Krise.
Die von der Pandemie angerichteten Schäden, sprengen inzwischen jede Vorstellungskraft. Zu beklagen sind nicht bloß zig-tausend Tote, Millionen Kranke, überlastete Hospitäler und ungezählte kleine Gewerbetreibende, die der Lockdown in die Insolvenz getrieben hat. Enorm ist auch der gesamtwirtschaftliche Schaden. Selbst wenn der Höhepunkt der Seuche demnächst überwunden sein sollte, wird er Staat und Gesellschaft noch auf Jahre belasten.
Die „Bazooka“ an Staatsstütze, die der ehemalige Bundesfinanzminister und heutige der Bundeskanzler Olaf Scholz zugunsten der Krisengeschädigten mobilisierte, hat die öffentlichen Kassen geleert. Seit Ausbruch der Seuche schüttete die Bundesagentur für Arbeit 46 Milliarden Euro an Kurzarbeitergeld aus. Die Staatsverschuldung (Bund, Länder, Gemeinden) schnellte laut Statistischem Bundesamt coronabedingt in einem Jahr um 111 Milliarden in die Höhe. Auf 330 Milliarden Euro beziffert das Münchner Ifo-Institut die Corona-Gesamtkosten seit 2020.
Verantwortlich dafür ist nicht nur die Seuche an sich, sondern auch die Unfähigkeit, sie in den Griff zu bekommen. Die Möglichkeit bestünde durchaus. Es gibt Impfstoff genug, jedenfalls hierzulande. Aber noch immer ist die Impfquote zu niedrig, um das, was Virologen „Herdenimmunität“ nennen, zu erreichen. Sie verharrt, allen Anstrengungen zum Trotz, bei 75 Prozent. Wie groß die Zahl der geschworenen Impfverweigerer unter den restlichen 25 Prozent ist, weiß niemand genau. Klar hingegen ist, dass hinter dem Rummel, den die „Querdenker“ mit ihren Demos und sinistren Netzwerken entfachen, keine Massenbewegung steht.
Umso erstaunlicher ist, dass es der lauten Minderheit bis jetzt gelungen ist, jeden Versuch, sie in Haftung für ihr Tun bzw. Unterlassen zu nehmen, geradezu lässig abzuwehren. Und das, obwohl sie weder im Politikbetrieb noch in den (klassischen) Medien über nennenswerte Unterstützung verfügt. Offensichtlich profitiert sie von einer Immunschwäche des Systems, die den Mehrheitswillen selbst dann ins Leere laufen lässt, wenn Erfahrung und wissenschaftliche Evidenz auf seiner Seite sind.
Was schiefläuft und warum, lässt sich an vier Stationen des pandemischen Passionsweges ablesen:
- Vor gutem einem Jahr stand fest: Es gibt einen wirkungsvollen Impfstoff. Der Zeitpunkt, zu dem ausreichend Impfdosen zur Verfügung stehen würden, war absehbar. Trotzdem blieb das Geschenk des „Impfstoffwunders“ ungenutzt. Ziemlich einmütig und lagerübergreifend sprachen sich führende Politiker gegen eine Impfpflicht aus. Der Mut war klein; groß dagegen die Angst, Gerichte könnten ein entsprechendes Gesetz kippen. Dabei war genau ein Jahr zuvor die Masern-Impflicht für Kitas und Schulen per Gesetz beschlossen worden – ohne juristische Beanstandung.
- Weil bei Corona alles scheinbar ganz anders ist als bei Masern, sprach sich Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im Frühjahr ersatzweise dafür aus, den Lockdown für Menschen mit vollständigem Impfschutz zu lockern. Die Ankündigung hatte den Charme, sachgerecht zu sein und zugleich Impfmuffel unter Druck zu setzen. Der Aufschrei der Empörung ließ nicht auf sich warten. Die „Querdenker“ schrien „Diktatur“. Damit war zu rechnen. Auffälliger war die Einlassung der Bundesjustizministerin, die sich sozialdemokratisch schüttelte bei dem Gedanken, es könne in der solidarischen Gesellschaft eine privilegierte Gruppe geben. Negativ war auch die erste Regung des Ethikrates. Im Margot-Käßmann-Stil warnten die Mitglieder vor einer Spaltung der Gesellschaft. Dabei war unschwer zu erkennen, wer in dieser Situation spaltete, wer Solidarität verweigerte und gegen ethische Mindeststandards verstieß: Impfgegner, die Leben und Gesundheit anderer und besonders der Schwächsten aus Egoismus gefährdeten.
- Am Ende wurden die sogenannten G-Regeln doch durchgesetzt, wenn auch hier und da mit hinter dem Rücken gekreuzten Fingern. Und plötzlich – die Delta-Welle rollte heran – war auch die allgemeine Impfpflicht kein Tabu mehr. Olaf Scholz verkündete als ein erstes Signal der neuen Regierung die Einführung der allgemeine Impfplicht für März. Inzwischen ist der Elan verflogen. Der Zeitplan dürfte wohl kaum noch einzuhalten sein, und gute Argumente sprechen dafür, dass das Projekt insgesamt auf dem Friedhof des Kleinmuts beerdigt wird.
- Ins Schlingern geraten ist sogar die „einrichtungsbezogene“ Impfpflicht. Hauptverantwortlich dafür ist die Union, die aus unerfindlichen Gründen glaubt, mit ihrer Kehrtwende die Aussichten für die bevorstehenden Landtagwahlen zu verbessern. Der hervorgekramte Einwand, Druck auf das Pflegepersonal werde die Überlastung von Krankenschwestern, Arzthelferinnen und Altenpflegern noch verstärken, lässt grübeln: Besteht nicht der Hauptgrund der vielstimmig beklagten Überlastung vielmehr darin, dass die Weigerung Weniger, sich impfen zu lassen, die Dienstpläne durchlöchert?
Das ewige Hin und Her sowie die vielen mit Händen zu greifenden Halbherzigkeiten tut dem Vertrauen der Mehrheit in die staatliche Lenkungskompetenz nicht gut. Entgeistert verfolgen die 75 Prozent Bundesbürger, die sich anstandslos haben pieksen lassen, wie Politiker unverdrossen daran festhalten, Impfunwillige im Dialog zu überzeugen, sie mit „niedrigschwelligen“ Angeboten zu erreichen oder mit Gratis-Bratwürsten zu ködern. Gebracht hat das bisher nichts. Hauptsache, der Minderheit wird nichts zugemutet!
Auf einen möglichen Ausweg aus der Sackgasse verwies dieser Tage der Soziologe Marcel Erlinghagen. In einem Beitrag in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) schlug er vor, Ungeimpfte mit einem Zusatzbeitrag in der gesetzlichen und der privaten Krankenversicherung zu belasten. Indes: So nachdenkenswert die Idee ist, so gewiss ist ihr die umgehende Enthauptung. Reiche, wird es heißen, könnten den Zusatzbeitrag locker aus der Portokasse zahlen, Arme nicht. Diskriminierung!
Wirklich? Nein, natürlich nicht, sondern ganz einfach die Folge der Diktatur einer Minderheit.
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