Von Günter Müchler

Dr. Günter Müchler

Während die Wirtschaft in die Rezession driftet, werden die Auftragsbücher der Bundesregierung immer dicker. So viel Krise gab es schon lange nicht mehr. Leichter täte man sich in Berlin, wäre da nicht die Zeche für Fehler zu zahlen, die bereits in der Vergangenheit begangen wurden. Am schwersten zu schaffen mit eigenen Erblasten haben die Grünen. Im Streit um die Restnutzung der deutschen Atomkraftwerke wird Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck mehr und mehr zum schwankenden Säulenheiligen, der sich zwischen politischer Einsicht und grüner Mythenpflege nicht entscheiden kann.

Vor wenigen Tagen musste Habeck einräumen, dass es im Winter ohne Zulieferung eigenen Atomstroms wohl nicht gehen wird. Er kassierte damit eine Stellung, die schon lange nicht mehr haltbar war. Zwei der drei Atemkraftwerke (AKW’s), die noch am Netz sind und nach bisheriger Lesart am Jahresende abgeschaltet werden sollen – Neckarwestheim und Isar II – , dürfen nun wohl bis April weiterlaufen. Im Streckbetrieb, wie man das neuerdings  nennt. Für das dritte, das AKW Emsland, soll es dagegen lebensverlängernde Maßnahmen nicht geben. Warum wohl? Der Reaktor liegt in Niedersachsen, wo jetzt gewählt wird und wo grüne Altvordere sich noch heute an sentimentalen Erzählungen aus dem Anti-Atom-Krieg erwärmen wie einst die Veteranen der Grande Armée an den Schlachtensiegen Napoleons.

Dass Robert Habeck sein „Bis hierhin und nicht weiter“ durchhalten kann und die beiden süddeutschen Atommeiler nur noch so lange produzieren dürfen wie die alten Brennstäbe reichen, ist schwer vorstellbar. Die Freien Demokraten, Koalitionspartner in einem immer löchriger werdenden Bündnis, haben ihrerseits eine rote Linie gezogen: Weiterbetrieb bis mindestens 2024, auch am Standort Emsland. Das bedeutet: Liberaler Schulterschluss mit der Union und Sprengstoff für die Ampel.

Schwer vorstellbar ist allerdings genauso ein Einknicken Habecks. Ob der bisher auf einer komfortablen Beliebtheitswolke schwebende Berliner Superminister will oder nicht, als Parteimann kann er nicht beliebig auf den Gefühlen seiner grünen Basis herumtrampeln. Die Partei hat ohnehin schon eine Menge Kröten schlucken müssen. Die Flüssiggas-Terminals an Nord- und Ostsee sind noch nicht verdaut, weil der Stoff weitgehend aus gefrackter amerikanischer Energie kommt und daher nach dem grünen Katechismus sündhaft ist. Bei der Neupositionierung der Kohle sehen glaubensfeste Grüne zudem alle Dämonen tanzen. Die Schrumpfkur für überzogene Bürgerbeteiligungsrechte beim Trassenausbau der  Erneuerbaren erscheint vielen Anhängern wie ein Frevel an der geheiligten Graswurzel-Tradition.

Noch nicht verdaut bei den Grünen ist auch die geradezu kopernikanische Wende in der Sicherheitspolitik. Nach dem 24. Februar verordneten Robert Habeck und Annalena Baerbock ihrer Partei ein Lernprogramm, das radikaler nicht hätte sein können. Seither predigen Grünen-Politiker die Lieferung von Leopard-Panzern und anderer schwerer Waffen an die überfallene Ukraine. Und das mit einer Inbrunst, die die Vorstände von Krauss-Maffei oder Rheinmetall ins Schwärmen bringt. Widerstandslos stimmte die Bundestagsfraktion dem 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr zu, wenn wohl auch die Pazifisten  nur mit hinter dem Rücken gekreuzten Fingern. Es ist eine verkehrte Welt: Die Grünen stehen da als Partei der Aufrüstung, die wieder hereinholt, was die Merkel-CDU einst verschleuderte. Zweifel an der „Sustainability“ – also der Nachhaltigkeit – der neuen grünen Sicherheitspolitik sind angebracht.

Habeck weiß, dass er seine Partei beim Krötenschlucken nicht überfordern darf. Er möchte glaubwürdig sein und wirkt mittlerweile doch mehr und mehr wie ein Getriebener; ganz wie ein zweiter Olaf Scholz, der das Richtige, was er macht, dadurch entwertet, dass er es immer nur unter Druck tut.  Der winzige Türspalt, den der Wirtschaftsminister jetzt der Kernenergie öffnet, ist das letzte Glied einer Litanei von Ausflüchten, die sein Ministerium in den vergangenen Monaten in die Umlaufbahn geschossen hat: Zuerst waren es angeblich die Betreiber der AKW’s, die keine Lebensverlängerung ihrer Werke wollten. Dann hieß es, das Personal der Meiler sei bereits abgewandert, die Sicherheit damit nicht gewährleistet und der Atomstrom überhaupt viel zu teuer. Die verzweigte grüne Lobby, angeführt von Claudia Kemfert, Abteilungsleiterin beim grüngewirkten Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), tourte durch die Fernsehstudios mit der Botschaft, es gebe wohl ein Gasproblem, mit dem Strom gäbe es dagegen keines, weshalb das ganze Gerede über die Ersatzkraft Kernenergie von wissenschaftlichem Sachverstand ungetrübt sei.

Alle diese Einwände haben sich inzwischen als Rückzugsgefechte erwiesen. Als hilflose Versuche, den Kreidekreis um das große Tabu zu verteidigen. Mehr und mehr sind die Grünen verstrickt in einen Grundwiderspruch: Wenn es stimmt, dass die galoppierende Erderwärmung die Mutter aller Krisen ist, wie kann man da die Kernenergie in die Ecke stellen, die nun zweifellos wenig Treibhausgase produziert, deutlich weniger jedenfalls als die Kohle? Alles fürs Klima? Die ideologische Ausgrenzung der Kernenergie ist das Virus, das die Glaubwürdigkeit der Grünen als Klimapartei auf die Intensivstation bringt.

Es wird Zeit, dass sich die Grünen ehrlich machen. Sie regieren seit einem Jahr in Berlin mit, und Regieren ist kein Wunschkonzert. Als sie noch Opposition waren, konnten sie es sich erlauben, den aus Frankreich importierten Atomstrom mit Schweigen zu übergehen. Toxisch war nur der Atomstrom aus deutschen Meilern. Inzwischen sind die französischen AKW’s in die Jahre gekommen. Die von Macron angekündigte nukleare Renaissance wird viele Jahre dauern. Deutschland muss, um der europäischen Netzsicherheit willen, einspringen. Womit? Mit Kohlestrom, dem Klimaverderber?

Habeck war bisher der Star der Ampel-Regierung. Er wurde wahrgenommen als „homme nouveau“ auf der politischen Bühne – als jemand, der mit verständlichen Worten seine Politik erklärte und dabei auch Mut bewies. Mittlerweile hat er seine traumhafte Sicherheit eingebüßt. Er macht Fehler wie bei der Gasumlage und schiebt gleich einen zweiten Fehler nach, indem er mit dem Finger auf die überlastete Beamtenschaft seines Hauses zeigt. Unter dem Sockel des Säulenheiligen beginnt es zu beben. Der Winter naht. Im Land wachsen die Zweifel, ob die Politik darauf genügend vorbereitet. Gewiss, die Kernenergie ist nicht die Lösung aller Probleme, sie hat aber Symbolbedeutung. Gelingt es nicht, ihren Einsatz ideologiefrei in die Gesamtrechnung einzustellen, wird Habecks Mantra, dass „jede Kilowattstunde zählt“, auf ihn zurückfallen.

 

Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.

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