Die Gegenwart ist schwierig genug
Von Gisbert Kuhn

Nein, liebe rantlos-Leserin und lieber rantlos-Leser, dieses Angemerkt wird nicht die Zahl der in diesen Tagen zahllos zu lesenden und zu sehenden Jahresrückblicke und Vorausschauen noch um einen weiteren Beitrag vergrößern. Warum auch? Rückschauen berichten über Vergangenes, bei dem wir sowieso Zeuge waren und das wir nicht mehr verändern können. Und Vorausschauen sind wie Blicke in die berühmte magische Glaskugel. Wer will schon Prophet sein in einer Zeit, in der ein mehrfach verurteilter Straftäter erneut zum Präsidenten einer Weltmacht gewählt wird und sich andere Großpotentaten beim Verfolg ihrer Großmannssucht einen Dreck scheren um bestehende internationale Verträge und geltendes Recht? In Zeiten, in denen Kriege wie gegen die Ukraine vom Zaun gebrochen und eigentlich fassungslos machende Terrorakte wie jener der Hamas in unseren Großstädten bejubelt werden? In Zeiten, in denen ausgerechnet im Land der Täter Antisemitismus offenkundig fröhliche Urstände feiert und Parteien gewählt werden, die auf dem Gedankengut eines „Führers“ gründen?
Es ist schon schwer genug, die Gegenwart zu begreifen, wie der jüngste Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg zeigt. Da klingen auf einmal alle guten Wünsche zum Fest des Friedens hohl. Zudem liefert diese Gegenwart so gut wie keine Antworten, sondern wirft nur noch neue auf. Was ist, zum Beispiel, in diese Gesellschaft gefahren? Ist sie in den Jahren immer steigenden Wohlstands unfähig geworden, mit sich selbst im Reinen zu bleiben? Hat sie es verlernt, mit Herausforderungen fertig zu werden? Überlagert der „Ich“-Gedanke die eigentliche Pflicht zum „Wir“? Wie passt das „Unser tägliches Brot gib uns heute“ aus dem christlichen Gebet der Menschheit mit der Tatsache zusammen, dass täglich tausende Tonnen Lebensmittel weggeworfen werden? Während gleichzeitig Hunderttausende am Rand der Existenz leben müssen.
Es ist, fraglos, eine Menge faul – nicht im Staate Dänemark, sondern im Staate Deutschland. Denn: Sind das nicht Fragen, derer sich eigentlich dringend jene annehmen müssten, die jetzt in den Wahlkampf ziehen? Ja, Parteien und Politiker müssen den Bürgern ihre unterschiedlichen Grundüberzeugungen und Konzepte nahebringen. Das gehört zum normalen Streit in einer Demokratie. Doch über allem Streit um die Sache müsste doch der Gedanke an das Wohl der Gemeinschaft stehen. Das mag leicht daher gesagt sein, ist aber unvermeidlich, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gewährleisten. Aber das können die Politiker, kann „die Politik“ nicht allein. Dazu müssen auch die Bürger ihr Teil beitragen – wir alle.
Vor allem im Umgang miteinander. Das beginnt schon bei der Sprache, die oft genug den Boden der Zivilisation verlassen hat. Nicht nur im digitalen Netz, sondern auch im Alltag auf der Straße sind Hass und Zwietracht eingezogen. Das sind gefährliche Tendenzen – bestens geeignet, eine Gesellschaft zu spalten. Natürlich ist es Unsinn zu beklagen, dass früher angeblich alles besser gewesen sei. Jede Zeit und alle Epochen hatten ihre eigenen Schwierigkeiten. Aber noch nie zuvor haben sich Auswüchse so rasant verbreitet und Anhänger gefunden wie heute. Es müssten also Wege gefunden werden, sich dem entgegen zu stemmen. Und zwar schleunigst. Das gilt, erneut, für die staatliche Führung vom Bundespräsidenten angefangen gleichermaßen wie für jeden einzelnen von uns.
Wir haben uns auf unserer (scheinbaren) Insel der Glückseligkeit komfortabel eingerichtet in den Jahrzehnten der Nachkriegszeit. Unsere Sicherheit wurde von der amerikanischen Atomwaffenmacht garantiert, wir brauchten uns weltpolitisch lange nicht zu engagieren, sondern konnten mit Fleiß die Wirtschaft aufbauen und gutes Geld verdienen. So etwas macht bequem. Verleitet zu einem ewigen „Weiter so“. Gleichzeitig verluderte unser Bildungssystem und der Wille zur eigenen Anstrengung. Doch die Zeiten sind längst vorbei. Wir können nicht länger zulassen, dass zigtausende junger Menschen ohne Abschluss die Schule verlassen, womit ihre Zukunftsaussichten verbaut sind. Wir können nicht zulassen, dass immer mehr Jugendliche die Muttersprache und selbst die Grundrechenarten nicht mehr beherrschen, nicht einmal mehr einen Purzelbaum schlagen und ihre Schuhe binden können.
Das alles und noch viel mehr ist Fakt zu Weihnachten 2024. Und das wird es auch bleiben im nächsten Jahr. Wenn wir uns darum jetzt gegenseitig „alles erdenklich Gute“ wünschen – sind darin dann auch die notwendigen Veränderungen gemeint? Veränderungen, deren Realisierung ganz gewiss wehtun werden. Denn es könnte durchaus sein, dass die zunehmenden Forderungen zum Beispiel nach deutlich mehr Anstrengungen zur Verteidigungsfähigkeit die staatlichen Sozial-Füllhörner merkbar belasten und zum Verzicht auf liebgewonnenen Konsum zwingen. Die Generation, die so etwas schon erlebt hat, stirbt langsam aus. Und die heutige? Sie hat Verzicht nie lernen müssen. Hoffentlich wird sie nie dazu genötigt sein.
Hoffnung ist ungefähr die Mitte zwischen Realität und Befürchtung. Alles kann so oder so ausgehen. Auf alle Fälle gilt es, auf der Hut zu sein. Dass sich ausgerechnet an unseren Universitäten – wie 1933 – Tendenzen breitmachen zu Fremdenhass und Antisemitismus müsste eigentlich bei allen Demokraten die Alarmglocken schrill ertönen lassen. Demokratie und Toleranz gehören schließlich zu den höchsten Gütern, die dieses Volk nach der Katastrophe von 1945 gelernt hat. Wer diese leichtfertig verspielt (zum Beispiel bei Wahlen), begeht im Sinne des Wortes Volksverrat.
Das ist die Gegenwart an Weihnachten, dem Fest der Liebe und des Friedens, 2024. Ein auch nur einigermaßen gültiger Ausblick auf die Zukunft verbietet sich angesichts der Realitäten. Trotzdem: Alles Gute zum Fest verbunden mit möglichst positiven Hoffnungen und Erwartungen für die kommenden 12 Monate. Das wünscht Ihnen von Herzen die rantlos-Redaktion.
Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel..
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