Die demokratischen Säulen geraten ins Wanken (II)
Nur etwas mehr als in Drittel der Weltbevölkerung lebt in Demokratien
Von Wolfgang Bergsdorf
Für die Bundesrepublik Deutschland – zumindest für den westdeutschen Teilstaat – und die Bundesbürger waren die Jahrzehnte nach Nazi-Diktatur und Kriegskatastrophe ohne jede Frage eine Erfolgsgeschichte. Wirtschaftlich ging es stetig bergauf. Entsprechend wuchs auch das Vertrauen in das politische Parlaments- und Regierungssystem – die Demokratie. In den vergangenen Jahren, freilich, haben die Stützsäulen dieser Struktur Risse bekommen. Nicht nur in Deutschland. Auch in vergleichbaren anderen europäischen Ländern. Und, wie die Vorgänge bei den und um die amerikanischen Präsidentschaftswahlen gezeigt haben, auch in den USA. Globalisierung, Migration, Digitalisierung, Pandemie – es ist viel in Bewegung geraten während der vergangenen dreißig Jahre. Entwicklungen, die viele Menschen einfach überfordern. Und nicht Wenige sehnen sich wieder nach der „starken Hand“ in der Politik. Demokratie also in der Krise?
Die Demokratie benötigte zweieinhalbtausend Jahre, um nach ihrer begrifflichen Erfindung durch die Griechen über eine unübersehbare Kette von Versuchen, Irrtümern, Fehlschlägen, Rückschlägen und Katastrophen eine Form zu finden, die es allen Bürgern eines Gemeinwesens gestattet, an der Ausübung politischer Macht teilzunehmen. Der Begriff „Demokratie“ wurde allerdings wurde erst um 1800 von der Gelehrtensprache endgültig in den allgemeinen Sprachgebrauch übernommen. Mittlerweile hat die freiheitliche Demokratie ein Regelwerk herausgebildet, das die Regierungsbildung von parlamentarischen Mehrheiten abhängig macht und das Regierungshandeln unter das Postulat der Mehrheitsfähigkeit bei den Regierten stellt. Das Regelwerk der liberalen Demokratie kanalisiert den politischen Entscheidungsprozess durch die Normen der Verfassung und des Rechts und stellt ihn in allen Phasen zur öffentlichen Diskussion. Zweck dieses Regelsystems ist der Ersatz von Gewalt als Mittel politischer Herrschaft durch Einvernehmen über die Verteidigungswürdigkeit personaler Freiheitsräume. Und zwar einschließlich (und sogar zuvorderst) fest verankerter Begrenzungen der politischen Macht.
Ein kompliziertes System
Die freiheitliche Demokratie ist deshalb ein höchst komplexes und äußerst kompliziertes System von Machtbeziehungen zwischen Bürgern, Verbänden, Parteien, Parlament und Regierung. Ein solches System kann nur funktionieren, wenn es transparent ist. Die Durchsichtigkeit der Machtbeziehungen, der Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse wird immer wieder zum erneuernden Legitimationsbeweis des Systems gegenüber den Bürgern. Die möglichst breite Kommunikation über politische Inhalte, der Austausch von Informationen über politische Meinungen und Absichten, Ereignisse und Zusammenhänge ist die entscheidende Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit dieses Systems. Die prinzipielle Offenheit politischer Kommunikation ist essentiell für Legitimität, Stabilität und auch Integration der parlamentarischen Demokratie. Dabei ist die freiheitliche Demokratie, logischerweise, stärkeren Belastungen ausgesetzt als jedes andere politische System.
„Alle Zukunft gibt Anlass zu Besorgnis“, kann man bei Niklas Luhmann, einem Klassiker der deutschen Soziologie des 20. Jahrhunderts, lesen. „Das ist ihr Sinn, und das gilt natürlich auch für die Zukunft der Demokratie. Je mehr in der Zukunft möglich ist, desto größer wird die Besorgnis; und das gilt nun im besonderen Maße für die Demokratie, denn Demokratie ist, wenn irgendetwas Besonderes geschieht, ein ungewöhnliches Offenhalten von Möglichkeiten zukünftiger Wahl“. Wer sich mit der Zukunft der Demokratie beschäftigt, ist gut beraten, Alexis de Tocqueville zu befragen. In seiner Analyse der demokratischen Anfänge in den Vereinigten Staaten formulierte er die These vom „nahen, unaufhaltsamen, allgemeinen Aufstieg der Demokratie in der Welt.“ Heute wissen wir, dass diese Prophezeiung damals – 1848 – zu früh war. Der Aufstieg war weder unaufhaltsam noch allgemein. Aber es gab ihn, vor allem in Nordamerika und Westeuropa.
Zweite Chance auch für die Osteuropäer
Nach der Implosion des Kommunismus in Europa und der Wiedervereinigung Deutschlands bekamen auch die Menschen Osteuropas eine zweite Chance. Sowohl die Länder des ehemaligen Warschauer Paktes als auch die einstigen Sowjetrepubliken im Westen und Südwesten Russlands kämpften um ihre Unabhängigkeit und Freiheit und wurden souverän. Allerdings gelang von den ehemaligen Sowjetrepubliken nur den baltischen Staaten der Übergang zu einer pluralistisch-parlamentarischen Demokratie.
Der Sieg der Demokratie in Osteuropa und im Baltikum und die Erweiterung der Europäischen Union auf 28 Länder veranlasste den französischen Politikwissenschaftler Jean-Marie Guéhenno 1994, das Ende des Nationalstaates vorauszusagen und damit auch das Ende der Demokratie. Die weltweite Verflechtung der Wirtschaft, das Zusammenwachsen weit entfernter Regionen durch Globalisierung und Digitalisierung hätten das Ende des „institutionellen“ Zeitalters eingeleitet. Begriffe wie Demokratie, Freiheit, Nation hätten ihre ursprüngliche Bedeutung eingebüßt. Das revolutionäre Jahr 1989 bezeichne das Ende des Zeitalters der Nationalstaaten, also „das Ende dessen, was durch die Revolution von 1789 institutionalisiert wurde“. Guéhenno hat sich möglicherweise durch die Magie der Jahreszahlen zu dieser kühnen These verleiten lassen. Klar jedenfalls ist, dass die Demokratie glücklicherweise dieses vorhergesagte Ende überlebt hat und auch der Nationalstaat keineswegs von der Bühne der Weltgeschichte oder der europäischen Politik verschwunden ist.
Erhebliche Fortschritte in 20. Jhrhundert
Wenn man den Blick vom deutschen Beispiel und von Europa löst und auf den internationalen Vergleich der Demokratien wirft, kann man das 20. Jahrhundert als einen Zeitraum bezeichnen, in dem die liberale, rechtstaatlich verankerte Demokratie erhebliche Fortschritte gemacht hat. Freedom House ist eine „non profit“ Organisation in Washington D.C., betreibt seit 1973 gründliche Messungen der politischen Systeme weltweit und veröffentlicht ihre Übersichten im Journal of Democracy. Dem Erkenntnisbericht von 1999 anlässlich der Jahrtausendwende ist, beispielsweise, zu entnehmen, dass von den im Jahr 1900 existierenden 55 souveränen Staaten kein einziger die heute geltenden Kriterien einer pluralistischen Demokratie mit allgemeinem Wahlrecht für jeden Bürger erfüllte. Selbst ein demokratisch so fortschrittliches Land wie Großbritannien hatte damals seinen Bürgerinnen noch das Wahlrecht verweigert. Von den 80 Staaten des Jahres 1955 erfüllten immerhin 22 Länder die Standardkriterien der Demokratie. 31 Prozent der Weltbevölkerung lebten seinerzeit in demokratischen Ländern. Von den 192 Staaten des Jahres 2000 waren ganze 85 Demokratien. In ihnen lebten immer noch 31 Prozent der Weltbevölkerung. In der gleichen Übersicht wurden 59 „halbfreie“ Länder (defekte Demokratien) gelistet und 48 nichtfreie oder gescheiterte Staaten. Heute lebt die Mehrheit der Weltbevölkerung in halbfreien oder unfreien Systemen.
Seit der Jahrtausendwende hat die Demokratie keine großen Fortschritte gemacht. Die Zahl der halbfreien und unfreien Staaten ist gestiegen. 2014 gab es unter den 195 souveränen Ländern 86 Demokratien, in denen fast drei Milliarden Menschen leben, also vierzig Prozent der Weltbevölkerung. Als „teilweise frei“ wurden von Freedom House 59 Länder eingestuft, das sind 28 Prozent der Staaten auf unserer Erde. Deren Zahl ist nach 2010 gestiegen, während sie in der ersten Dekade des Jahrhunderts noch abgenommen hatten. Heute werden 50 Länder als „unfrei“ charakterisiert, in ihnen leben 2,6 Milliarden Menschen. Das sind 36 Prozent der Weltbevölkerung. Es ist erwähnenswert, dass davon die Hälfte in einem einzigen Land lebt – nämlich in China.
Finnland steht ganz vorn
Die aktuelle Bewertung der Länder unter der Perspektive der Demokratie notiert für Finnland den Höchstwert 100 Punkte, für die USA 86 Punkte. Das sind 4 Punkte weniger als zur Zeit der Obama-Administration. Ein Grund für die Herabstufung ist die Verbreitung von Falschinformationen durch den abgewählten Präsidenten Trump. Deutschland erreicht danach 94 Punkte. Alle EU-Mitglieder kommen über 90 Punkte mit Ausnahme von Polen, das mit 84 Punkten gerade noch als „frei“ eingestuft wird. Ungarn erhält nur 70 Punkte und wird deshalb als „teilweise frei“ bewertet. Die Türkei ist in diesem Zusammenhang ebenfalls von Interesse. Sie galt schließlich noch vor kurzem als EU-Beitrittskandidat. Freedom House bewertet sie mit 32 Punkten und etikettiert sie mithin als „unfrei“.
Stabile Demokratien sind Länder mit liberal-demokratischen Verfassungen, deren Ordnung seit mehreren Jahrzehnten fest verankert ist und die mindestens zwei ordnungsgemäß zustande gekommene Machtwechsel erlebt haben. Weiter gehört zu diesen Demokratien eine jahrzehntelang währende Herausbildung einer politischen Kultur mit starken Selbstverwirklichungswerten, das Fehlen von nennenswerten Anti-System-Parteien, ein starker Rechtsstaat mit wirksamem Schutz der Bürgerrechte und schließlich ein hoher wirtschaftlicher Wohlstand, der den sozialen Ausgleich in der Bürgergesellschaft ermöglicht.
Wird fortgesetzt
Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf (Jahrgang 1941) ist Politikwissenschaftler in Bonn.
Teil I.: https://www.rantlos.de/politik/die-demokratischen-saeulen-beginnen-zu-wanken.html
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