Von Günter Müchler

Autor Günter Müchler

Platon war bestimmt einer der weisesten Menschen der Antike. Allerdings bewahrte ihn die Weisheit nicht vor schweren Fehlern. So vertrat er die Ansicht, die Staaten würden am besten von Philosophen regiert; eine ausgesprochen schlechte Idee. Die Geschichte ist voller Beispiele, die zeigen, dass Geist und Staatskunst eher selten zusammenfinden. Den jüngsten Beweis dafür liefert der Appell von 28 Schriftstellern, Schauspielern und Kabarettisten an Bundeskanzler Olaf Scholz.

In dem Brief, veröffentlicht in der Frauenzeitschrift „Emma“, warnen die Unterzeichner den Kanzler davor, der Ukraine schwere Waffen zu liefern. Deutschland würde dadurch zur Kriegspartei und lade Russland zur weiteren Eskalation ein, möglicherweise zum Atomschlag. Stattdessen solle Berlin auf einen Waffenstillstand hinwirken, auf einen „Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können“.

Pflichtgemäß versichern die Autoren, selbstverständlich verletzte der russische Überfall auch nach ihrer Meinung „die Grundnorm des Völkerrechts“. Und natürlich habe die Ukraine ein Recht auf Gegenwehr. Doch solche Pflichtübungen können den Subtext des offenen Briefes nicht auswischen: Der Aufruf hat die Niederlage der Ukraine als unvermeidlich eingepreist. 

Die ukrainische Armee hat in den zurückliegenden Wochen eine Widerstandskraft an den Tag gelegt, die alle Welt überrascht hat, Putin wohl an erster Stelle. Aber die heldenhafte Verteidigung hat nichts daran geändert, dass Russland die größeren militärischen Ressourcen besitzt. Liefern Deutschland und der Westen der Ukraine keine schweren Waffen, ist nach allem, was wir wissen, der Sieg des Aggressors programmiert und das Schicksal des Überfallenen gleichermaßen.

Wie soll unter diesen Umständen ein „Kompromiss“ aussehen, „den beide Seiten akzeptieren können“? Kiew müsste wohl auf die Krim verzichten, auf die Landverbindung zur Krim, auf den Donbass, und die Zerstückelung des ukrainischen Territoriums hinnehmen. Ein Zyniker, der diese Dehnung des Wortes Kompromiss bekömmlich findet!

Den Vorwurf des Zynismus würden die Unterzeichner – von Alice Schwarzer bis Juli Zeh – gewiss weit von sich weisen. Doch geht das, was im Verlauf des Appells folgt, weit über Tatbestand der Naivität hinaus. Vor zwei „Irrtümern“ glauben die Verfasser nämlich warnen zu müssen: Erstens trage für eine mögliche Eskalation nicht bloß der Aggressor die Verantwortung, sondern auch diejenigen, „die ihm sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln liefern“. Nach dieser Logik hätten vor 75 Jahren die Alliierten eine Mitschuld an der Ausrufung des Totalen Krieges durch Goebbels und an der Finalisierung der Judenvernichtung gehabt.

Der zweite „Irrtum“ betrifft die Zivilbevölkerung. Es stockt einem der Atem, wenn man liest, dass die moralische Verantwortung für weitere Opfer unter der ukrainischen Zivilbevölkerung keineswegs „ausschließlich in die Zuständigkeit ihrer Regierung“ falle. Soll das heißen, dass die „Zuständigkeit“ für die bisherigen zivilen Opfer – der im Schutt bombardierter Wohnhäuser Begrabenen, der vergewaltigten Frauen, der mutwillig exekutierten Greise – etwa in Kiew liegt? Wer diese Interpretation bei allem Ärger den Briefeschreibern nicht unterstellen will, muss sich auf eine zweite einlassen, die kaum weniger atemberaubend ist: Deutschland und der Westen müssen die Ukraine zwingen, die Waffen zu strecken, damit der Opferzoll ihrer Zivilbevölkerung nicht weiter steigt.

Es fällt auf, dass der Name Putin in dem Brief kein einziges Mal genannt wird. Unerwähnt bleibt auch, dass der Kremlchef ein Wiederholungstäter ist in Sachen Völkerrechtsbruch. Dass er mit dem nuklearen Erstschlag droht. Dass er in der plattesten Art und Weise lügt. Dass der zweite Mann im Staat, Außenminister Lawrow, den ukrainischen Präsidenten Selenskij mit Hitler auf eine Stufe stellt, indem er Hitler als Halbjuden bezeichnet. Nichts von alledem findet in dem Schreiben Erwähnung. Mit diesem Mann soll Frieden geschlossen werden?

Das Problem des offenen Briefes besteht nicht in der Abwesenheit ehrenwerter Motive der Autoren. Die Sorge vor einer Ausweitung des Krieges treibt jeden vernünftigen Menschen um. Und dass eines Tages verhandelt werden muss, um den Krieg zu beenden, auch daran darf und muss erinnert werde. Das Problem liegt auf zwei Ebenen: Einmal in der angemaßten moralischen Vormundschaft gegenüber der Ukraine, einer Nation, die um das nackte Überleben kämpft. Zum anderen in der Bereitschaft, um der eigenen Ruhe, um des eigenen Wohlstands willen sich dem Starken zu beugen – zu Lasten Dritter.

Letzteres ist ein Déjà Vu: In den achtziger Jahren, als die Polen um ihre Freiheit kämpften und die Menschen in der DDR anhuben, das SED-Regime zu verjagen, war es die linksliberale Elite der alten Bundesrepublik, die den Status quo mit allen Mitteln verteidigte und aus den Rattan-Sesseln ihrer Lofts die Demonstranten aufforderte, im Sinne des Weltfriedens noch ein bisschen in der Unfreiheit auszuharren. Den Mauerfall feierte sie nach einem Wort des Historikers Hans Peter Schwarz mit „gestopften Trompeten“.

Professoren, Intellektuelle an die Macht? Putin wäre das recht.

Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.

 

 

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