Rezension von Wolfgang Bergsdorf

Gaston Dorren: Die großen Sprachen und was sie so besonders macht

Autor Wolfgang Bergsdorf

Sprache definiert den Menschen als sprechendes Lebewesen. Sie stellt dem Menschen ein besonderes Kommunikationssystem zur Verfügung, mit dem er mit anderen Menschen Tatsachen und Meinungen, Erinnerungen und Emotionen, Chancen und Bedrohungen teilen kann. Sprache wird so für den Menschen zum Überlebensmittel.

Es ist deshalb verständlich, dass Menschen seit alters her über Möglichkeiten und Grenzen der Sprache reflektieren. Schon im ersten Buch Mose des Alten Testamentes wird in Gen. 11,1-9 die Geschichte des Turmbaus zu Babel erzählt: „Alle Welt hatte nur eine Sprache und gebrauchte die gleichen Worte… Als sie einen Turm bauen wollten, dessen Spitze bis in den Himmel reichte, sprach der Herr: Wohlan, lass uns herunter steigen! Wir wollen dort ihre Sprache verwirren, dass keiner mehr die Rede des anderen versteht. Und der Herr zerstreute sie von da an über die ganze Erde und sie hörten mit dem Städtebau auf. Darum heißt die Stadt Babel (Wirrsal), denn dort hat der Herr die Sprache der ganzen Welt verwirrt.“

22 000 Sprachen und Dialekte

Und hat damit – so muss man ergänzen – den Grund gelegt für die Entstehung und Herausbildung von mehr als 22.000 Sprachen und Dialekte im Laufe der Menschheitsgeschichte. Die meisten von ihnen sind schon ausgestorben, bei einigen bemühen sich Linguisten, sie vor dem Aussterben zu retten. Zum Beispiel gelang dies bei der Sprache der Maori; sie ist mittlerweile im Schulkanon Neuseelands verankert. Für ihre 100.000 Sprecher ist Englisch die Erst- oder Zweitsprache.
Der niederländische Journalist und Linguist Gaston Dorren hat jetzt ein Buch vorgelegt, das sich mit den 20 aktuell größten Sprachen und insgesamt 6 050 Idiomen seit der Babel-“Explosion” beschäftigt. Er versucht dort die Fragen zu beantworten, was sie so besonders macht, warum sie in den letzten Jahrhunderten den Aufstieg in die Spitzenliga der Sprachen geschafft haben und wie sie im Laufe der Geschichte kleinere Sprachen ihrer Region abgedrängt oder untergepflügt haben.
Muttersprache und Zweitsprache

Die Größe ist die einzige Gemeinsamkeit dieser 20 Sprachen, die – zusammengerechnet – als Muttersprachen von der Hälfte der Menschheit gesprochen werden. Die Liste beginnt mit 85 Millionen (Vietnamesisch und Koreanisch). Und sie erreicht den “Gipfel” bei Mandarin mit 1,3 Milliarden und Englisch mit 1,5 Milliarden Sprechern. Der Autor zählt Muttersprache und Zweitsprache zusammen. Er registriert im Kapitel für die jeweilige Sprache deren Nutzer im Ausland als zumeist ethnische Minderheit.

In der „Cambridge Enzyklopädie der Sprache“ von David Crystal findet sich auch eine Liste der 20 bedeutendsten Sprachen, die sich von der Dorrens bei einigen Sprachen insofern unterscheidet, dass er nicht die Zweitsprachler berücksichtigt. Bei jeder Beschäftigung mit Sprache fällt auf, dass die Statistiken ziemlich ungenau sind; sie werden von den Vergleichenden Sprachwissenschaftlern nur als Orientierungsgröße behandelt.

Erbe von den imperialen Mächten

Gaston Dorren © Bram Patraeus

Zu den “Top Twenty” gehören natürlich die Sprachen der imperialen, der herrschenden Mächte der vergangenen 700 Jahre – also Englisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Russisch und Arabisch. Niederländisch gehört, interessanterweise, nicht dazu. In diesem Zusammenhang erinnert Dorren daran, dass seine Muttersprache das Japanische sogar mit einer ganzen Reihe von Lehnwörtern angereichert hat. Denn Holland war die einzige europäische Nation, die von 1641-1858 mit Japan Handel betreiben durfte.

Weiter werden große regionale Verkehrsprachen wie Hindi – Urdu, Malaiisch oder Bengalisch behandelt. Jeder Sprache wird ein kleiner Kasten vorangestellt mit verfügbaren statistischen Angaben, dann folgt ein Steckbrief mit den Eigennamen der Sprache, ihrer Zugehörigkeit zu einer Sprachfamilie, Angaben zur Grammatik, zur Aussprache, zu Herkunft der wichtigsten Lehnwörter und Exportwörter. In jedem Kapitel wird die Sprache im Vergleich zu anderen vorgestellt und ihre Eigentümlichkeiten und Besonderheiten behandelt.

Deutsch steht auf Platz elf

Deutsch landet mit 200 Millionen Sprechern auf Platz elf, vor Suaheli mit 135 Millionen Sprechern und nach Französisch mit 250 Millionen Sprechern. Dem Autor fallen einige Eigentümlichkeiten der deutschen Sprache auf, für die er als Niederländer zwar ein großes Maß an Verständnis hat, die aber im Vergleich zu anderen, auch indogermanischen Sprachen eigentümlich sind. Pronomina (Fürwörter) werden fast nie ausgelassen, bei Fragen wird die Reihenfolge von Subjekt und Verb vertauscht, das Deutsche hat so ungefähr die merkwürdigsten Regeln zur Wortreihenfolge, die man sich ausdenken kann. Und jedes Substantiv im Deutschen besitzt eines von drei Geschlechtern (der, die und das), in vielen Sprachen gibt es nur ein Geschlecht. In anderen nur zwei, weil das Neutrum fehlt.

Das macht das Erlernen dieser Sprache nicht leichter. Man hört bei Ausländern, die Deutsch lernen, hier auch die meisten Fehler. Aber all dies hat schon vor mehre als 120 Jahren der amerikanische Schriftsteller Mark Twain in seinem amüsanten Essay über „die schreckliche deutsche Sprache“ glossiert. Bemerkenswert ist, dass die 45 Jahrie währende deutsche Spaltung in Dorrens Darstellung keinerlei Erwähnung gefunden hat, wogegen er im Kapitel Koreanisch die politischen Unterschiede zwischen Nord- und Südkorea schon in den Selbstbezeichnungen der Sprache aufleuchten lässt.
Krieg wegen der Sprache

Sprache als Kriegsursache

Ein extremes Beispiel für eine nationalistische Instrumentalisierung der Sprache wird im Kapitel Tamil aufgezeigt, das auf Sri Lanka und in Südindien gesprochen wird. Diese Sprache hat im Konkurrenzkampf mit anderen Sprachen erst vor kurzem zu einem lang dauernden Bürgerkrieg geführt. Abschließend spekuliert der Autor über die Frage, welche Sprache das Potenzial in sich trägt, die lingua franca, also die beherrschende Sprache der Zukunft zu werden. Seine Antwort fällt eindeutig aus. Diese Rolle werde nicht Mandarin übernehmen können, auch wenn politisch und ökonomisch China in absehbarer Zeit auf dem Globus zur führenden Macht werden sollte.

Dazu ist, findet der Autor, diese Sprache zu komplex und zu schwierig. Zudem hat Englisch hat den Vorteil, dass es in vielen Bereichen schon heute führend ist. Jeder Vierte Bewohnern unseres Planeten spricht aktuell Englisch zumindest als Zweitsprache. Selbst chinesische Kinder lernen Englisch schon in der Grundschule, bevor sie richtig Mandarin schreiben können. Jedes fünfte Buch erscheint weltweit auf Englisch. 80 Prozent aller wissenschaftlichen Texte werden in Englisch publiziert! Fast alle internationalen Block Buster und Musikhits sind englischsprachig. Und – nicht zu vergessen – diese Sprache beherrscht auch die internationale nicht militärische Luftfahrt.

Ende des Berufs Dolmetscher?

Dies alles sind Indizien gegen das Mandarin als Weltsprache der Zukunft. Vielleicht wird diese Frage überhaupt bald überholt werden durch die technologische Entwicklung, die dank Künstliche Intelligenz (KI) den Beruf des Dolmetschers möglicherweise überflüssig machen könnte. Denn kleine Apparate oder Apps auf dem Smartphone könnten bald eine fast simultane Übersetzung in die wichtigsten Sprachen der Welt möglich machen. Angeboten werden solche Apparaturen schon heute, auch wenn die Leistungsfähigkeit noch optimierbar ist.

Eine kleine Nachbemerkung noch: Sie bezieht sich weniger auf unseren Autor, der die Dialekte nicht behandelt hat, sondern auf den Sprachwissenschaftler Boris Blahack, der sich an den Universitäten Regensburg und Pilsen mit Dialekten beschäftigt ist. Er hat kürzlich folgendes herausgefunden: Der Prager Dichter Franz Kafka (1883 – 1924) war ein “bairisch” sprechender Autor. Dank seiner intensiven Beschäftigung mit dem nachgelassenen Schrifttum von Kafka (dessen Freund Max Brod hat den Nachlass glücklicherweise gegen den Wunsch des Erblassers nicht vernichtet), fand Blahack bei Kafka zahlreiche Belege für dessen bairisch.

Im Alltag (so das Forschungsergebnis) sprach Kafka eine so genannte ostmittelbairische Varietät des Deutschen. Der bairische Sprachraum reicht weit über den Freistaat Bayern hinaus. Heute bildet das Idiom mit mehr als 13 Millionen Sprechern sogar das größte zusammenhängende Dialektgebiet in Mitteleuropa. Der größte Teil der Bairisch-Sprecher lebt, interessanterweise, außerhalb Bayerns. Und zwar mehrheitlich in Österreich und in Südtirol. Aber auch in Westböhmen wurde bis 1945 (also bis zur Vertreibung der Deutschen) bairisch gesprochen. Kafkas Literatursprache erwuchs aus jenem wunderbar klingenden Deutsch, dass sich in Prag um 1900 behaupten musste. Damals war die Stadt an der Moldau ein sprachlicher und kultureller Schmelztiegel. Die Mehrheit sprach tschechisch, für 7 Prozent war deutsch Muttersprache. Knapp die Hälfte von ihnen war jüdischer Herkunft, weshalb auch das Jidddische eine bedeutende Rolle spielte. Sprachlich wurde Kafka in einem Umfeld von Tschechisch, dialektalem Deutsch und Jiddisch sozialisiert. Diese Mischung hat ein unsterbliches Werk zustande gebracht, für das jeder deutsche Leser dankbar sein sollte.

 

CH Beck Verlag

978-3-406-76684-8

Erschienen am 15. Juli 2021

2. Auflage, 2021

400 S., mit 70 Abbildungen

Hardcover

 

Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf (Jg.1941) ist nicht nur Politologe, sondern war, unter anderem als Mitglied von Helmut Kohls so genanntem „Küchenkabinett“, jahrelang selbst aktiv am politischen Geschehen beteiligt.  Zudem war Bergsdorf in der Regierungszeit Kohls Leiter der Inlandsabteilung des Bundespresseamtes und anschließend Chef der Kulturabteilung des Bundesinnenministeriums. 1987 war er zum außerplanmäßigen Professor für Politische Wissenschaften an der Bonner Universität ernannt worden. Von 2000 bis 2007 amtierte er als Präsident der Universität Erfurt.

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