Von Günter Müchler
Autor Günter Müchler

Sich irren, kann vorkommen. Im Irrtum verharren,  ist dagegen unentschuldbar. Über viele Jahre hat Berlin versucht, durch Nachsicht und Beschwichtigung mäßigend auf die Aggressivität der russischen Politik einzuwirken. Erreicht wurde das Gegenteil. Jetzt wäre der Zeitpunkt für ein Umsteuern gekommen. Die neue Bundesaußenministerin muss zeigen, dass sich nicht nur die Tonlage ändert.

Das Zwiespältige hat in der deutschen Russlandpolitik Tradition. In den fünfziger Jahren musste Adenauer seinen Kurs der Westorientierung gegen starke innenpolitische Widerstände durchsetzen. Die damalige Schumacher-SPD und neutralistische Kräfte wie die Gesamtdeutsche Volkspartei des CDU-Renegaten (und späteren Bundespräsidenten) Gustav Heinemann sahen das Heil in einer Schaukelpolitik zwischen den Blöcken. In den achtziger Jahren verkümmerte Brandts ursprünglich produktive Ostpolitik zu einem Status-quo-Credo, das den Sowjet-Imperialismus sogar dann noch stützte, als der Einsturz des Imperiums schon absehbar war.
Nach 1989 fühlte sich die Bundesrepublik Deutschland den Russen zum Dank verpflichtet, weil Michail Gorbatschow den Weg zur Wiedervereinigung nicht blockiert hatte. Das Ende des Kalten Krieges mündete in eine Phase der Hoffnung. Russland war nicht mehr die Sowjetunion, und wenn es sich doch so gebärdete wie zu alten Kreml-Zeiten, verscheuchte man in Berlin Irritationen mit dem Argument, der Verlustschmerz einer ehemaligen Supermacht sei normal, nachvollziehbar und gehe vorüber.

In den Nullerjahren verstetigte sich diese Haltung. Aus Egon Bahrs  Mantra „Wandel durch Annäherung“ wurde „Annäherung durch Handel“. Als Wladimir Putin die Krim annektieren ließ und einen Kleinkrieg im Osten der Ukraine entfachte, schmollte die Bundesregierung zwar eine Zeitlang, doch konnte der neue Zar darauf bauen, dass Berlin trotz allem an der Linie der „Dialogpolitik“ (also einer Fortsetzung der Brandt-Bahr´schen „Friedenspolitik“) festhalten werde. Garantin dieser Linie war – neben Teilen der SPD – Angela Merkel. Und zwar bis zum Ende ihrer Kanzlerschaft.
Eine neue und andere Russlandpolitik – wie sollte diese aussehen? Aus dem Stegreif wird man sie nicht formen können, zumal sich das Atlantische Bündnis von Donald Trumps Irrlichtern noch nicht erholt hat. Es wäre ja schon ein Fortschritt, würde man eingestehen, dass diese Politik auf ganzer Linie gescheitert ist und erheblichen Schaden angerichtet hat. „Die Mitschuld der Bundesrepublik an der aktuellen Kriegsgefahr ist immens“, urteilte dieser Tage der in Kiew lebende Historiker Kyrylo Tkachenko bitter in der FAZ.

Ob der Aufmarsch russischer Einheiten an der ukrainischen Grenze wireklich eine echte Kriegsgefahr bedeutet, wie Tkachenko meint, steht dahin. Putin hat bisher keineswegs mit der Unberechenbarkeit eines überreizten Spielers agiert. Man darf daher annehmen, dass er den Bogen auch künftig nicht überspannen, aber auch nicht aufhören wird, die Sonde seiner Provokationen in den weichen Unterleib des Westens zu stoßen. Das Ziel des einstigen KGB-Mannes ist offenkundig: Die Ukraine, die baltischen Staaten und endlich auch Polen sollen einsehen, dass ihre Sicherheit bei NATO und Europäern in schlechten Händen ist.
Dieses Ziel mag utopisch klingen. Die Angst der Osteuropäer vor dem übermächtigen Russland ist historisch tief eingewurzelt und wird aktuell durch Putins kalkulierte Grenzverletzungen noch angestachelt. Andererseits hat jenseits von Oder und Neiße das Vertrauen in den Westen Risse bekommen. Enttäuscht ist man vor allem von Deutschland. Gewiss, die weitgehend nationalistisch bestimmte, autoritäre PiS-Regierung in Warschau geht vielen auf die Nerven. Und was die Ukraine angeht, gibt es gute Gründe, ihr die NATO-Mitgliedschaft vorzuenthalten. Aber warum man dem Staat, dessen Stabilität von Russland systematisch unterminiert wird, beharrlich Defensiv-Waffen verweigert, und weshalb Berlin sogar die Lieferung von neunzig (!) Präzisionsgewehren an die ukrainische Armee blockiert, versteht in Kiew niemand.

Ganz zu schweigen von der Gas-Leitung Nord-Stream-2. Die Pipeline in der Ostsee wird von Berlin bis heute als „rein privatwirtschaftliches“ Projekt verteidigt. Dabei liegt auf der Hand, dass Nord-Stream-2 die energiepolitsche Abhängigkeit Deutschlands von Russland steigern muss und Gazproms (also des russischen Energie-Giganten) Gewinne den Kreml in die Lage versetzen, weiter aufzurüsten. Putin gibt sich noch nicht einmal Mühe, den Charakter seines Regimes zu verschleiern. Unaufhörliche Cyber-Angriffe auf unterschiedlichste Einrichtungen im Westen, Auftragsmorde wie der vom Berliner Tiergarten, der Giftanschlag auf den Bürgerrechtler Alexej Nawalny, die Verklärung des Massenmörders Stalin als großem Patrioten und die Unterdrückung der Menschenrechts-Organisationen „Memorial“ gehören zum realistischen Gesamtgemälde seines Herrschaftssystems, das sich im außenpolitischen Teil durch die Nichtanerkennung völkerrechtlicher Grenzen auszeichnet.

„Dialogpolitik“ wird gegen den von Putin praktizierten Chauvinismus in der Zukunft so wenig ausrichten wie in der Vergangenheit. Sie wird ihn vielmehr ermutigen. Der Kreml-Herrscher hat ohnehin seine Fünfte Kolonne auf beiden Flügeln des bundesdeutschen Parteienspektrums postiert. Antriebskraft ist auf der Linken (der ehemaligen PDS und davor DDR-Staatspartei SED) alte Verbundenheit; auf der Rechten, bei der AfD, ist es die neue Bewunderung für alles Autoritäre, Anti-Europäische und einen Nationalismus, der sich von nichts und niemandem Schranken setzen lässt.

Die deutsche Protestszene? Sie ist mit „Fridays for future“ und Corona vollkommen ausgelastet und war, jedenfalls in ihrer allzeit kampfbereiten linken Ausprägung, auf dem russischen Auge stets auffällig blind. Alt-Achtundsechziger bekommen noch heute feuchte Augen, wenn sie sich an die Großdemos im Bonner Hofgarten gegen die Notstandsgesetze und die NATO-Nachrüstung erinnern. Schon damals war eine Haltung, die zwar mit aller Macht gegen Mittelstreckenwaffen des westlichen Bündnisses zu Felde zog, von der sowjetischen Atomwaffenpräsenz jenseits des Eisernen Vorhanges dagegen nicht beschwert war, intellektuell keineswegs überzeugend. An dieser “asymmetrischen” Empfindsamkeit der Linken hat sich bis heute nichts geändert.
Umso gespannter sein darf man deshalb auf die neue bundesdeutsche Außenministerin. Annalena Baerbock hat eine menschenrechtsbetonte Außenpolitik angekündigt und aus ihrer Abneigung gegen das Nord-Stream-2-Projekt nie ein Hehl gemacht. Ob hinter dieser Abneigung mehr steckt als die Ablehnung der Energiequelle Erdgas, und ob mit Baerbock die ewigen Russland-Versteher in der „Fortschritts-Koalition“ der Ampel eine starke Antipodin haben, dürfte sich schon bald herausstellen.

Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.

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