Das Wunder von 1989: Ein Gewaltregime stürzt, ohne dass ein Schuss fällt (Teil 1)

Von Wolfgang Bergsdorf

“Deutschland einig Vaterland” ©seppspiegl

Vor genau drei Jahrzehnten wurde – nach 45 Jahren nationaler Spaltung und menschlicher Trennung – der Weg zur deutschen Einheit formal abgeschlossen. Am Vorabend des 3. Oktober 1990 herrschte bei den hunderttausend Menschen vor dem Berliner Reichstagsgebäude eine ausgelassene, optimistische Stimmung, von der sich auch die auf den Galerien dieses geschichtsträchtigen Bauwerks stehenden Politiker Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher, Richard von Weizsäcker, Willy Brandt und Lothar de Maiziere anstecken ließen. Als das mitternächtliche Feuerwerk und die Nationalhymne den ersten Tag der deutschen Einheit markierten, flossen Ströme von Freudentränen, aber gewiss auch manche Tränen des Bedauerns über das Verschwinden eines Staates, mit dem man groß geworden war.

Allen, die dabei waren, erschien es wie ein Wunder, dass es innerhalb eines Jahres  gelungen war, die deutsche Einheit zu erreichen. Sicher  dank einer klugen Politik. Das eigentliche Wunder aber hatte sich im Herbst 1989 ereignet, als Hunderttausende zunächst in Leipzig und dann auch in Berlin und vielen anderen Städten der DDR für einen Regimewechsel und dann für die Einheit demonstrierten. Ohne dass ein einziger Schuss fiel! Dass es so friedlich blieb, war nicht zuletzt den Kirchen zu verdanken. Oft nahmen die Demonstrationen in Gotteshäusern, wie der Leipziger Nikolaikirche, ihren Anfang, und die Menschen hielten sich strikt an die vereinbarte Gewaltlosigkeit. Ein Verantwortlicher der Staatssicherheit hat dies später so kommentiert: „Mit allem haben wir gerechnet, nur nicht mir Kerzen.“

Die Nachwirkungen der Diktatur

Blick auf Wachturm der DDR an der Grenzmauer zwischen Berlin Ost und West ©seppspiegl

In den drei Jahrzehnten seitdem haben wir lernen müssen, mit den Nah- und Fernwirkungen der DDR-Diktatur umzugehen. Vor allem mussten wir alle miteinander erfahren, dass eine Diktatur wie die in der DDR nicht einfach wie ein Hemd abgelegt werden kann. Vor allem dann nicht, wenn in diesem (dem östlichen) Teil unseres Landes die 1933 von den Nationalsozialisten errichtete Diktatur nach dem verheerenden Krieg zwar 1945 ihre Farbe von braun nach rot wechselte. Aber der zuvor erlebte NS-Zwangscharakter änderte sich unter dem kommunistischen Regime nicht. Mehr als ein halbes Jahrhundert wurden den Menschen dort ihre Bürger- und Menschenrechte verweigert. Nachdem in den 50-er Jahren mehr als zwei Millionen Ostdeutsche in den Westen geflohen waren, haben ab August 1961 die Berliner Mauer, 155 km lang, 4 Meter hoch mit Wachtürmen und Todesstreifen sowie der von der Ostsee bis an die tschechische Grenze verlaufende, massiv gesicherte Zaun die Flucht endgültig verhindert. Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl kosteten mindestens 327 Menschenleben. Bis zum Mauerfall am 9. November 1989 haben 500 000 junge DDR-Bürger als Wehrpflichtige die innerdeutsche Grenze bewacht.

Es gab in den Herrschaftsjahren der Staatspartei SED („Mutterpartei“ der heutigen „Die Linke“) 110 000 Verfahren gegen so genannte Grenzverletzer. Die in der sowjetischen Besatzungszone aus dem unter Zwang herbeigeführten Zusammenschluss von KPD und SPD zur faktisch allmächtigen DDR-Staatspartei sollte die Einführung und Vollendung des Sozialismus bezwecken – und führte doch in Wirklichkeit zur Drangsalierung der Bevölkerung durch die allgegenwärtige Stasi, dirigiert vom Ostberliner „Ministerium für Staatssicherheit“, und zu einer immer katastrophaleren wirtschaftlichen Lage. Die Gefängnisse waren voll von „politischen“ Sträflingen, oft wegen versuchter Republikflucht oder wegen unerlaubter politischer Äußerungen oder Aktionen verurteilt. Viele davon wurden von der Bundesrepublik Deutschland „freigekauft“. Obwohl von den westlichen Regierungen weitgehend unbemerkt, staute sich zwischen Elbe und Oder bei den Menschen eine gewaltige Frustration an, die sich entlud, als der Druck der Repression nachließ.

Der Wahlbetrug wurde aufgedeckt

40.Jahrestag der DDR: Foto: Erich Honecker (mitte), Michail Sergejewitsch Gorbatschow (Mitte), Raissa Gorbatschow (2.v.r.) ©seppspiegl

Vor diesem Hintergrund war der 7. Mai 1989 so ein Datum – ein historischer Zeitpunkt sozusagen. Damals gelang es den oppositionellen Kräften erstmals bei den Kommunalwahlen, den üblichen Wahlbetrug zu dokumentieren. Jeder wusste in der DDR, dass  es bei den Wahlen nicht um eine wirkliche Auswahl von Personen ging, sondern um die bloße Akklamation für das von der SED zuvor festgelegte Personal. Die Oppositionellen waren so klug, in möglichst allen Wahllokalen bei der öffentlichen Auszählung präsent zu sein und konnten so die tatsächlichen Ergebnisse mit den veröffentlichten, „getürkten“ Zahlen vergleichen. Immerhin: Theoretisch war auch nach DDR-Recht die Fälschung von Wahlergebnissen strafbar und wurde mit bis zu 3 Jahren Haft bedroht.

Die aufgeladene Stimmung der Bevölkerung spürte wohl auch der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow, als er am 7. Oktober 1989 zum 40. Geburtstag der DDR nach Ost-Berlin kam und scheinbar beiläufig die Formulierung wählte: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“.  

(Fortsetzung folgt)

 

Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf (Jahrgang 1941) ist nicht nur Politologe, sondern war, unter anderem als Mitglied von Helmut Kohls so genanntem „Küchenkabinet“, jahrelang selbst aktiv am politischen Geschehen beteiligt.  Zudem war Bergsdorf in der Regierungszeit Kohls Leiter der Inlandsabteilung des Bundespresseamtes und anschließend Chef der Kulturabteilung des Bundesinnenministeriums. 1987 war er zum außerplanmäßigen Professor für Politische Wissenschaften an der Bonner Universität ernannt worden. Von 2000 bis 2007 amtierte er als Präsident der Universität Erfurt.

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