Deutschlands Einigung stärkt Europas politisches Gewicht

Von Wolfgang Bergsdorf

Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher ©seppspiegl

Neben der politischen und diplomatischen Arbeit waren Bundeskanzler Helmut Kohl, Außenminister Hans-Dietrich Genscher und die christliberale Bonner Koalition insgesamt in dieser zugleich mit Spannung aufgeladenen wie fragilen Zeit des Sommers 1989 mit einer breit angelegten Kommunikationskampagne beschäftigt. Denn die größte Herausforderung an die Überzeugungsarbeit der Bundesregierung war der Abbau der inländischen, vor allem aber der ausländischen Befürchtungen über mögliche negative Folgen der deutschen Vereinigung für die Stabilität in Europa. Das größer werdende Deutschland mit rund 80 Millionen Bürgern, seiner gestärkten Wirtschaftskraft, seinem gewachsenen politischen Gewicht, seiner wiedererlangten vollen Souveränität aber auch seiner historischen Hypothek hatte, verständlicherweise, Ängste über seinen zukünftigen Kurs ausgelöst.

Werben um Vertrauen

Im Zentrum der Kommunikationsarbeit der Bundesregierung stand deshalb das Werben um bleibendes Vertrauen in die Demokratie, das sich die westdeutschen politischen Führungen während der vergangenen 40 Jahre als zuverlässige und berechenbare Partner erworben hatten. Der Bundeskanzler, der Bundesaußenminister, mit ihnen die gesamte Regierung und die sie tragenden politischen Kräfte wurden daher nicht müde mit dem Argument, dass die Überwindung der deutschen Teilung als Überwindung der Spaltung Europas zu verstehen sei – mithin die deutsche Einigung und der parallel dazu verlaufende europäische Integrationsprozess zwei Seiten der gleichen Medaille darstellten.

Weil die Europäer ein gutes Gedächtnis für Geschichte besitzen, galt es nicht zuletzt, in allen formellen und informellen Gesprächen die grundsätzlichen Unterschiede der deutschen Einigung von 1990 und der immer zitierten Reichsgründung von 1871 zu verdeutlichen:

  1. Damals, im Spiegelsaal von Schloss Versailles, war die Verkündung des Nationalstaats ein „von oben“ verordneter Vorgang, auch wenn sie von den Deutschen begrüßt wurde. Dieses Mal, hingegen, ist die Einheit das Ergebnis des bisher ersten erfolgreichen revolutionären Prozesses, der in Deutschland vom Volk selbst in Gang gesetzt wurde.
  2. 1871 kam es zur Reichsgründung nach Kriegen gegen Dänemark (1866), Österreich (1866) und Frankreich (1870/71). Heute ist die Einheit Folge der friedlichen Selbstbefreiung unserer Mitbürger in der DDR, deren mutige Massenmanifestationen die kommunistische Herrschaft zum Einsturz brachten.
  3. Vor mehr als einem Jahrhundert haben die europäischen Nachbarn Deutschlands die Einigung mit Skepsis bis Ablehnung verfolgt. Insbesondere der französische Verlust von Elsass-Lothringen machte die Rückgewinnung dieser Gebiete für Jahrzehnte zum Leitmotiv der Pariser Außenpolitik und damit den deutsch-französischen Gegensatz („Erbfeindschaft“) zu einer festen Größe, mit der alle europäischen Mächte rechnen konnten und mussten. Jetzt gelang die deutsche Einheit mit Zustimmung und Unterstützung aller Europäer, und die nach 1945 erarbeitete deutsch-französische Freundschaft wird zu Recht als Motor der europäischen Integration verstanden.
  4. Die Annexion Elsass-Lothringens wirkte sich für die Außenpolitik des Deutschen Reiches als Fußfessel aus. Die Verteidigung dieses Gebietes schränkte den Handlungsspielraum des Deutschen Reiches stark ein. Die Anerkennung aller seiner Nachkriegs-Grenzen einschließlich der Oder-Neiße-Linie durch das jetzt vereinte Deutschland verschafft dagegen einen zusätzlichen Handlungsspielraum, welcher der europäischen Integration zugute gekommen ist.
  5. Die Reichsgründung von 1871 brachte einen klassischen Nationalstaat in der Verfassung einer konstitutionellen Monarchie hervor, dem trotz aller Bekenntnisse von Selbstgenügsamkeit immer ein imperialer Anspruch unterstellt wurde. Denn das deutsche Kaiserreich umfasste mehr als die deutsche Nation. Das vereinte Deutschland des Jahres 1990 hingegen ist ein gemäßigt nationaler Staat in der Form einer bundesstaatlichen, parlamentarisch verfassten Republik. Und diese ist zudem noch bereit, einen wachsenden Teil ihrer nunmehr wieder vervollständigten Souveränität an die transnationalen Einrichtungen Europas abzugeben.
  6. 1871 hing die außenpolitische Zukunft des neuen Kaiserreichs von der Fähigkeit und Bereitschaft seiner politischen Führung ab, Deutschland im Gleichgewicht der europäischen Großmächte Frankreich, England, Österreich-Ungarn und Russland zu halten. Die Ausbalancierung dieses Gleichgewichts führte immer wieder zu krisenhaften Entwicklungen und misslang schließlich endgültig, nachdem der „Lotse“ Bismarck von Bord gegangen war. Heute ist das vereinte Deutschland fest verankert in der westlichen Werte-, Wirtschafts- und Verteidigungsgemeinschaft, die einen künftigen Sonderweg des 80-Millionen-Volkes unmöglich macht. Das  Deutschland von heute sieht seine Bestimmung in Europa, dessen Integration zur deutschen Staatsraison geworden ist.
  7. Nach 1871 war es, angesichts der Machtverschiebung durch die Reichsgründung, in ganz Europa zu einer das gesamte öffentliche Leben prägenden Militarisierung gekommen. Im Gegensatz dazu erlaubt heute die Überwindung des Ost-West-Konfliktes als Voraussetzung der deutschen Einheit wie der europäischen Einigung  eine Demilitarisierung, wie sie quantitativ und qualitativ in der Geschichte ohne Vorbild ist.

Freude und Nüchternheit

Dass es der Bundesregierung und den Deutschen insgesamt gelungen ist, diese grundlegenden Unterschiede unseren ausländischen Partnern im Zwei-plus-Vier-Prozess überzeugend zu verdeutlichen, war nicht nur ein Erfolgsmaßstab der Kommunikationsarbeit, sondern auch eine entscheidende Voraussetzung für die Einigung. An Glaubwürdigkeit gewann diese Botschaft dann endgültig am 3. Oktober 1990, als ausländische Journalisten und Regierungen sich davon überzeugen konnten, dass die Deutschen keineswegs in einen nationalen Rausch verfielen, sondern ihre wieder gewonnene Einheit mit Freude feierten, um sich anschließend mit Nüchternheit den durch die 40-jährige Spaltung ergebenden Problemen zu widmen und ihre politischen Leidenschaften im Wahlkampf zu entfalten.

Das alles geschah vor 30 Jahren. Mittlerweile haben sich die außenpolitischen Rahmenbedingungen gründlich verändert. Heute stellen sich der deutschen und europäischen Politik vollständig neue  Herausforderungen, um das internationale Konfliktpotential von Globalisierung und Re-Nationalisierung einzuhegen und beherrschbar zu halten. Dass einige der internationalen Akteure wie US-Präsident Trump im Weißen Haus, Präsident Putin im Kreml, Präsident Xi in Peking und Präsident Erdogan in seinem Palast in Ankara nichts auslassen, um Deutschland und Europa um Erfolge zu bringen, kennzeichnet die Größe der Herausforderung. Ohne ein vereintes Deutschland wäre dies alles allerdings noch schwieriger.

Wie steht es um die Bilanz?

Innenpolitisch ist die Bilanz überwiegend positiv. 80 Prozent der Westdeutschen wie der Ostdeutschen halten die friedliche Revolution für einen Glücksfall der deutschen Geschichte. 90 Prozent der West- und 83 Prozent der Ostdeutschen sind auch mit der Lebensqualität in Lande zufrieden. Und 9 von 10 Deutschen halten die Wiedervereinigung für mehr oder weniger gelungen. Ich finde gerade diese letzte Zahl für besonders bemerkenswert, denn noch im Oktober 1989 hatte die DDR-Staatspartei SED 2,3 Millionen Mitglieder. Vor allem sie waren es, die von den mit der Wiedervereinigung verbundenen Brüchen und Zumutungen nur wenig Positives zu erwarten hatten.

Natürlich sind bei dem komplizierten Prozess der Vereinigung Fehler begangen worden. Aber nach 30 Jahren kann man mit Dankbarkeit feststellen, dass die deutsche Einheit nicht nur im großen Ganzen, sondern in vielen Details gelungen ist. Wer Vergleiche liebt, kann dies z.B. daran erkennen, dass der Lebensstandard in Sachsen inzwischen höher ist als der im Saarland. Im Übrigen gilt die kabarettistische Devise: Bei der nächsten Wiedervereinigung wird alles besser.

Ende                                  Titelfoto: Bundeskanzler Helmut Kohl, Kanzler der Einheit ©seppspiegl

Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf (Jahrgang 1941) ist nicht nur Politologe, sondern war, unter anderem als Mitglied von Helmut Kohls so genanntem „Küchenkabinet“, jahrelang selbst aktiv am politischen Geschehen beteiligt.  Zudem war Bergsdorf in der Regierungszeit Kohls Leiter der Inlandsabteilung des Bundespresseamtes und anschließend Chef der Kulturabteilung des Bundesinnenministeriums. 1987 war er zum außerplanmäßigen Professor für Politische Wissenschaften an der Bonner Universität ernannt worden. Von 2000 bis 2007 amtierte er als Präsident der Universität Erfurt.

 

Teil (I): https://www.rantlos.de/politik/der-weg-zur-deutschen-einheit.html

Teil (II): https://www.rantlos.de/politik/der-weg-zur-deutschen-einheit-ii.html

Teil (III): https://www.rantlos.de/politik/der-weg-zur-deutschen-einheit-iii.html

Teil (IV): https://www.rantlos.de/politik/der-weg-zur-deutschen-einheit-iv.html

 

 

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