Für Reiner „Semmel“ Brothuhn wurde die Musik zu seinem Leben

Von Gisbert Kuhn

Reiner „Semmel“ Brothuhn ©seppspiegl

Wenn professionellen Laudatoren gar nichts Eigenes mehr einfällt, dann betiteln sie die Objekte ihrer Lobeshymen gern als „Urgestein“, „Original“, “Veteran“, „Altmeister“ und dergleichen. „Semmel“ kann davon sicherlich ein Lied singen. Ganz sicher genießt auch er es, wenn positiv über ihn geschrieben wird. Tatsächlich aber würde es genügen, ihm zu konstatieren, dass er ein guter Trompeter ist sowie ein profunder Kenner des Jazz sowohl in dessen klassischer als auch moderner oder Swing-hafter Gestaltung. Und – ganz und gar nicht zuletzt – „Semmel“ hat mittlerweile zwar schon die Achtzig“ erreicht. Aber er war, ist und bleibt der Trompeter von Bonn. Allerdings vor allem von Bundes-Bonn.

Natürlich heißt „Semmel“ nicht wirklich „Semmel“. Das war einem Freund vor vielen Jahren spontan eingefallen, als der Name für eine neue Band gesucht wurde. „Semmel“ heißt in Wirklichkeit mit Vor- und Nachnamen Reiner Brothuhn. Und, wie leicht nachzuvollziehen, musste die erste Silbe der Familienanrede die Basis für den Spitz- und Ehrentitel abgeben. Zum wirklichen Markenzeichen aber wurde „Semmel“ in der namentlichen Begleitung von „Hot Shots“. Wenn auch mit einem – gewollt oder zufällig – grammatikalischen Fehler, der bislang noch niemandem aufgefallen zu sein scheint: Nämlich als „Semmel´s“ mit einem Genetiv-„s“, das dort in Wirklichkeit nicht hingehört.

„Wir brauchen keine Provinzmusiker“

Reiner „Semmel“ Brothuhn ©seppspiegl

In der einstigen kleinen Hauptstadt am Rhein ist „Semmel“ Brothuhn mit seinen Hot Shots (mitunter auch in kleinerer Besetzung) trotz des Wegzugs der Politik 1999 nach Berlin, unverändert ein ehern feststehender Begriff. Und zwar quer durch die Generationen. Deshalb kann der Trompeter von Bonn auch nur lachen, wenn ihm aus der eigen-verliebten, großspurigen Spree-Capitale hochnäsig beschieden wird: „Wir in Berlin brauchen keine Provinzmusiker aus Bonn“. Ob diese Gelassenheit vielleicht am mittlerweile doch schon reiferen Alter liegt? Das stimme, sagt Brothuhn, „das Schöne am Älterwerden ist, dass ich inzwischen über viel mehr Dinge lachen kann – das war früher anders“.

Früher – wo soll die Erinnerung an die Anfänge ansetzen? Eigentlich ist “Semmel“ (wie so viele Bonner) gar kein „Bonner“. Er wurde vor 80 Jahren – also 1942 – im sächsische Weinböhla geboren. Wer das nicht kennt – es liegt unweit von Dresden. Es war Krieg, und die Familie musste flüchten in die heute rund 34 000 Einwohner umfassende Stadt Lage im Lipper Land zum Großvater, der unter anderem Hundefutter produzierte. Überspringen wir jetzt einfach mal die Schul-, Lehr- und Wanderjahre mit ihren Hochs und Tiefs und kommen nach Bonn.

Liebe zum „klassischen“ Jazz

Den dringenden Rat der Eltern – nämlich Akkordeon zu lernen – hatte Reiner zu seinem Glück nicht sehr intensiv verfolgt und sich stattdessen (auf den Tipp eines Freundes hin) der Trompete zugewandt. Und seiner bleibenden musikalischen Leidenschaft – dem Jazz. Vorzugsweise dem „klassischen“. Dem, der mit Städtenamen wie New Orleans und New York verbunden ist, in denen man natürlich gerade als Musiker diese Musik erleben muss. Diese Art Jazz spielte er dann nicht nur mit seines „Hot Shots“, den „Heißen Schüssen“. Seelenverwandte Freunde fand er in Bonn auch bei (nicht wirklichen) Konkurrenten, wie den „Chicago Footwarmers“.

Reiner „Semmel“ Brothuhn ©seppspiegl

Es waren die Zeiten, in denen die diversen Szenen miteinander vernetzt waren. Die Stammtische von Journalisten, Künstlern, oft auch Politikern aus dem Bundestag und der Kommunalpolitik, Theaterleuten – kurz von jenen Teilen unserer Gesellschaft, von denen man gemeinhin sagte, aus ihnen sei nichts Anständiges geworden. Der inzwischen verstorbene Geert Müller-Gerbes, jahrelang Pressesprecher von Bundespräsident Gustav Heinemann und späterer „Chefentwickler“ von Radio Luxemburg, pflegte zum Beispiel einen solchen Stammtisch. GMG (so seine Abkürzung) hatte aber auch eine „Talkshow“ im Bonner Klein-Theater“ „Contra-Kreis“, für die „Semmel“ die Eröffnungsmelodie komponierte und bei der er mit den „Hot Shots“ 100 Mal für die musikalische Begleitung sorgte. Besonderes Erlebnis: An einem dieser Abende erlebte die damalige Kanzlergattin Hannelore Kohl den Eintritt in ihren Geburtstag auf dem Plüschsofa. Exakt um Mitternacht bliesen „Semmel“ Brothuhn und sein Musikfreund Elmar Schaffmeister der Jubilarin ein festlich getragenes „Happy birthday“. Und wurden dafür herzlich umarmt.

Bis in den frühgn Morgen

Zweite Erinnerung: Selbstverständllich hat es in Bonn schon Pressebälle „vor Semmel“ gegeben. Aber das eigene Gedächtnis will einfach nicht über das immer wieder kehrende Bild hinausgehen, wie Reiner Brothuhn an der Spitze seiner Hot Shots mit beschwingtem Swing und mtreißendem Dixie gleichsam als Türöffner für den Bundespräsidenten den langen Gang in der Beethovenhalle entlang tänzelte. Und wer (wie zum Beispiel Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller) morgens um 8 Uhr im hintersten Raum der Halle noch immer Lust am Schwofen hatte – für den und die hauten die „Shots“ auch um diese frühe  Tageszeit noch unverdrossen schmissige Töne raus.

20 Pressebälle, 33 Juristenbälle, ungezählte Sommerfeste aller (damaligen) Parteien und Landesvertretungen. Tempi passati – vergangene Zeiten. Aber jede Zeit hat ihre Höhepunkte. Und wer zu „Bonner Zeiten“ schon so bekannt war wie „Semmel“ Brothuhn, der konnte – wenn er es denn konnte – auch den „Größen“ des politischen Lebens Aug in Aug begegnen. Wenigstens in bestimmten Zeiten und bei bestimmen Gelegenheiten. Zum Beispiel bei Wahlkämpfen. Da brauchten die Parteien Bands, die vor den Auftritten der „Großkopfeten“ das Publikum aufwärmen sollten. Oder bei Parteijubiläen. Man konnte „Semmel“ einfach nirgendwo entgehen. Und natürlich sind sie auch im Ausland aufgetreten, vor allem in Belgien und den ebenfalls Noten-bewegten Niederlanden. Einmal sogar hat Semmel beim legendären Chris Barber mitgespielt. Und mit Duke Ellingtons Startrompeter Cootie Williams intensiven Meinungsaustausch gepflegt…

Reiner „Semmel“ Brothuhn ©seppspiegl

Nie wirklich an die Spitze getraut

Den wirklichen Schritt an die Spitze aber hat Reiner Brothuhn nie gewagt. Warum eigentlich nicht? „Ich habe mich“, sagt Semmel nach einigem Nachdenken, „zu einem einigermaßen guten Trompeter entwickelt. Ich konnte – und kann – auch Bands ganz gut führen. Aber um richtig gut – und ich meine wirklich richtig gut – Jazz zu spielen, hätte es noch ein wenig mehr gebraucht. Zumindest nach meinen Anforderungen an mich selbst“. Der Zuhörer vernimmt das, zweifelt, akzeptiert jedoch letztlich die Selbstzweifel. Denn auch ohne weltweite Reputation sind Reiner „Semmel“ Brothuhn und die Hot Shots längst ihre eigenen lebenden Denkmäler. In Bonn, im Rheinland und auch darüber hinaus.

Mit ihrem Namen sind viele Ereignisse verbunden. Da war die Gründung der „Jazz Galerie“ oder das Auftaktkonzert zum legendären „Bonner Sommer“, bei dem die Berliner noch tolz waren, dass sie die RIAS-Bigband entsenden durften. Nicht zu vergessen die (immer noch) sommerlichen Konzerte in der Rheinaue und die Auftritte im Sommergarten auf dem Dach der Bundeskunst- und Ausstellungshalle. 80 Jahre alt ist der Bandleader inzwischen. Ein Stück Bonner Kulturgeschichte. Aber auch das Lipper Land ist bei Semmel nicht vergessen. Zusammen mit alten Freunden macht er, zumeist an Wochenenden, in Detmold oder Lage mit großem Vergnügen Straßenmusik – zugunsten von ukrainischen Kindern.  

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