Von Wolfgang Bergsdorf

Wolfgang Bergsdorf

Was ist dem Staat der Nachwuchs wert? Die Antwort darauf ist eine staatliche Regelung, die am 1. September vor 50 Jahren in Kraft trat und einen schier unaussprechlichen bürokratischen Titel trägt: „Bundesgesetz über die individuelle Ausbildung von Schülern und Studenten in Deutschland“. Oder auch „Bundesausbildungsförderungsgesetz“. Oder kurz: „Bafög“. Das BAföG ist – keine Frage – ein besonders wichtiger Bestandteil des Sozialgesetzbuches und wurde zu einem tragenden Fundament des Sozialstaates. Es sollte die Chancengleichheit im bundesdeutschen Bildungswesen erhöhen und, vor allem, Bildungsreserven bei der einkommensschwächeren Bevölkerung mobilisieren.

Bund und Länder haben hierfür 2020 fast 15 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt, von denen die Bundesländer fast 40 Prozent übernommen haben. Davon haben 640 000 Personen, vor allem Studenten, profitiert. Das waren zwar 6 Prozent weniger als im Jahr zuvor. Allerdings ist der durchschnittliche Förderungsbetrag auf 556 Euro monatlich gestiegen, der aber dennoch deutlich unterhalb des Höchstförderungsbetrages von 861 Euro blieb. Auch wenn sich in diesem halben Jahrhundert die Zahlen der Förderberechtigten und sonstigen Verfahren immer wieder geändert haben, so bleibt das Gesetzeswerk doch eine große Leistung der Steuerzahler. Denn ihnen ist das enorme Wachstum der Zahlen der Abiturienten und Studenten seit 1971 zu verdanken.

Bevor damals die unterschiedlichen Anstöße in der Politik zum BAföG gebündelt werden konnten, hat in Westdeutschland eine jahrelange, mit großer Leidenschaft geführte Debatte über das Bildungssystem stattgefunden. Ausgelöst worden war diese 1957 durch den so genannten Sputnik-Schock ausgelöst, als die Sowjetunion den ersten Satelliten in den Weltraum brachte und damit eine Überlegenheit ihres sozialistischen Bildungssystems über die westlichen Vorstellungen zu demonstrieren versuchten.

Weltweit wurden die seinerzeit schon erkennbaren ökonomischen und politischen Herausforderungen an das jeweilige Bildungssystem kritisch erörtert. Für die alte Bundesrepublik rief 1964 der Philosoph, Theologe und Pädagoge Georg Picht 1964 in einer aufsehenerregenden Serie von Zeitungsaufsätzen den „Bildungsnotstand“, weil die Zahl der Abiturienten (1961 = 7 Prozent) zu gering sei, um Deutschland wirtschaftlich und politisch eine aussichtsreiche Zukunft bescheren zu können. Die ökonomischen und politischen Argumente dieser Diskussion wurden zudem noch ethisch durch die Forderung nach mehr Bildungsgerechtigkeit überlagert. Das hieß: Wenn Bildung als einziges legitimes Unterscheidungsmerkmal übrigbleibt, nachdem Vermögen und Herkunft ihre für beruflich Karrieren frühere Bedeutung verloren haben, dann muss der Aufstieg durch Bildung besser organisiert und staatlich gefördert werden.

Dem FDP-„Vordenker“ Ralf Dahrendorf gelang 1965 mit der Formel vom „katholische Arbeitermädchen vom Lande“ die vier wichtigsten Gruppierungen der damals fraglos bestehenden Benachteiligung bei der Bildung zu benennen: Katholiken, Arbeiter, Mädchen und Landbevölkerung. Der Jesuit Karl Erlinghagen kämpfte gegen das Bildungsdefizit der Katholiken, Ignaz Bender, damals AStA-Vorsitzender von Freiburg und später langjähriger Kanzler der Universität Trier, warb bei der Aktion „Student aufs Land“ 1966 um mehr Bildungsbereitschaft bei der ländlichen Bevölkerung.

Es waren übrigens die Studenten, die erstmals schon vor 55 Jahren auf dem VIII. Deutschen Studententag 1965 in Bonn die systematische Frage stellten „Was ist dem Staat der Nachwuchs wert?“ Die mehrtätige Veranstaltung wurde ausgerichtet vom Verband Deutscher Studentenschaften, dem seit 1969 nicht mehr existierendem repräsentativen Organ aller Studierenden in Deutschland.

Interessant war, übrigens, schon die Tagesordnung. Was in unserer heutigen hochsäkularisierten und autoritätskritischen Zeit undenkbar wäre, gehörte damals noch zum Standard: Der Studententag stand unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten Heinrich Lübke und begann mit einem ökumenischen Gottesdienst im Bonner Münster.

 Hochrangige Parteipolitiker traten zum Thema Ausbildungsförderung und Hochschulfinanzierung in der Aula der Bonner Universität auf: Der Geschäftsführende Vorsitzende der CDU, Hermann Josef Dufhues, der SPD-Vorsitzende und Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, und der Stellvertretende FDP-Vorsitzende Ewald Bucher. Die Studenten hatten sich auf alle Fragen gründlich vorbereitet und wurden von den Politikern ernst genommen. Aber deren Antworten gelang es damals ebenso wenig wie heute, die strukturellen Defizite der Ausbildungsfinanzierung wegzudiskutieren.

Die Politik benötigte noch weitere 6 Jahre, um im Sommer 1971 das BAföG durch Bundestag und Bundesrat zu bringen. Heute können Millionen Akademiker den 50. Geburtstag dieses Förderungssystems feiern, ohne welches sie die angestrebten Abschlüsse nicht erreicht hätten. Es dauerte noch einige Zeit, um die Organisation der Bafög-Administration aufzubauen. Hierfür konnte man die Studentenwerke gewinnen, die den sozialen Aufstieg durch Bildung seit je mit großem Engagement betreiben.

Auch schon das Vorgänger-Stipendiensystem, das sogenannte Honnefer Modell, war von den Studentenwerken verwaltet worden. Es wurde 1955 auf einer gemeinsamen Konferenz von Westdeutscher Rektorenkonferenz (WRK) und Kultusministerkonferenz (KMK) unter Beteiligung zahlreicher Studenten- und Jugendverbände vor den Toren Bonns in Bad Honnef beschlossen. Damit sollte die ausufernde studentische Werkarbeit begrenzt werden. Ein gesetzlicher Anspruch auf Förderung bestand nicht. Die geistige Vorarbeit wurde vom damaligen Sozialreferenten des Verbandes Deutscher Studentenschaften, Theo Tupetz, geleistet. Er war es auch, der als erster den im Bafög realisierten Rechtsanspruch auf Förderung bedürftiger Studenten formulierte.

Tupetz wurde später Chef des Sozialamtes des Bundesstudentenringes, des Zusammenschlusses der Studentenverbände aller Hochschularten, und sorgte dafür, dass das Honnefer Modell auch auf die Studierenden anderer Hochschulen ausgedehnt wurde. Dies gelang 1958 mit dem Rhöndorfer Modell als analogem Förderungssystem für die anderen Hochschulen und Höheren Fachschulen, den Vorläufern der heutigen Fachhochschulen. Während die Kosten des Honnefer Modells im Etat des Bundesinnenministeriums aufgebracht wurden, finanzierten die Länder des Rhöndorfer Modell.

Bei der Einführung des Bafög bezogen 45 Prozent der Studierenden Leistungen. Heute sind es 11 Prozent. Hinter diesem Rückgang der Prozentpunkte verbirgt sich freilich eine regelrechte Explosion der Studentenzahl, die seit 1971 von 422 000 auf fast 3 Millionen nach oben schnellte. Der Erfolg des Bafög bei den Studenten hatte zur Folge, dass die Politik auch bei der nichtakademischen Ausbildung einen Förderungsbedarf entdeckte. Zum Beispiel wurde ein so genanntes Meister-Bafög eingeführt. Vor 25 Jahren wurde diese Förderungsmaßnahme in einem gesonderten Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz (AFBG) zusammengefasst. Diese Unterstützung besteht aus einem „verlorenen“ Zuschuss und einem unter günstigen Konditionen zurückzahlbaren Darlehnsanteil. Dafür standen 2020 783 Millionen Euro zur Verfügung. Davon haben 180 000 Personen profitiert, die sich beruflich weiter qualifizieren wollten.

Zu den Glückwünschen zum 50. bzw. 25. Geburtstag des Bafög bzw. des AFBG gesellen sich freilich auch kritische Anmerkungen. Unübersehbar ist, zum Beispiel, der Rückgang der absoluten Zahlen der Geförderten. Vor 10 Jahren bezog fast 1 Million junger Menschen Leistungen nach den BAföG. Heute sind es gerade einmal noch 639 000. Gründe dafür sind nicht etwa eine gute Konjunktur und eine deutliche Verbesserung der elterlichen Vermögenslagen. Verantwortlich sind vielmehr Versäumnisse der Politik, die Regeln und Methoden der Förderung an die Lebenswirklichkeit der Studenten anzupassen.

Das gilt vor allem für die zu niedrigen Freibeträge der Eltern, die viele Studenten aus der Förderung herausfallen lassen. Oder es ist die Angst der Studierenden vor der Verschuldung, die sei davon abhält, Darlehen anzunehmen. Die Lösung könnte, wie schon vor 1974, ein Vollstipendium sein. Für die kommende Bundesregierung bleibt hier noch Einiges zu tun.

 

Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf (Jg. 1941) ist Politikwissenschaftler mit profunden Kenntnissen vom wirklichen Politikgeschehen. Er war Büroleiter des damaligen CDU-Chefs Helmut Kohl, später nacheinander Leiter der Inlandsabteilung des Bundespresseamts und der Kultur-Abteilung im Bundesinnenministerium. Von 2000 bis 2007 war Bergsdorf Präsident der Universität Erfurt.

 

 

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