Von Günter Müchler

Günter Müchler

Eine dieser Tage herausgekommene und seither viel diskutierte Umfrage des Beamtenbundes diagnostiziert eine schwere Vertrauenskrise. Nur noch 29 Prozent der Deutschen hielten, so die Aussage, den Staat für in der Lage, unsere drängendsten Probleme zu lösen. Wer ist schuld? Natürlich weisen die Finger überwiegend auf die Regierung, was insofern naheliegt, als die Ampelkoalition seit Monaten keineswegs den Eindruck einer Mannschaft macht, die großen Wert auf gepflegtes Zusammenspiel legt. Das musste jetzt sogar der Kanzler in seinem Sommerinterview mit dem Zweiten Deutschen Fernsehen zugeben. Dennoch springt der Beamtenbund-Vorsitzende Ulrich Silberbach wohl zu kurz, wenn er versucht, die Zweifel an staatlicher Lösungspotenz mit einer Binse („Fehlende Führung erzeugt Unsicherheit“) zu erklären. Der Staat ist nicht die Regierung. Er ist auch keine eierlegende Wollmilchsau. Er ist das, was wir aus ihm machen.

Momentan ist er vor allem die Ablagestelle für unseren Frust. Stimmungsmäßig durchlaufen wir gerade, frei navh Shakespeare, einen Sommer des Unbehagens. Nichts funktioniert, wie es funktionieren sollte. Es regnet zu viel, aber dort, wo es regnen sollte, zu wenig. Im Straßenverkehr kommt man nicht voran. Entweder ist eine Brücke gesperrt oder „Die letzte Generation“ möchte beweisen, dass politische Demenz keine Sache des biologischen Alters ist. Der ÖPNV ist eine Lachnummer. Umsteigen auf die Bahn kann nur der, dem keine Stunde schlägt. Reparaturen im Haus? Auch bei den Handwerkern steht man auf dem Schlauch. Und Kranksein ist wirklich nicht zu empfehlen. Wartelisten für Operationen, fehlende Kindermedizin in Apothekerregalen. Krankenhausärzte verlangen jetzt sogar eine Geldstrafe für jeden, der die Notfallambulanz aufsucht, obwohl er noch auf eigenen Beinen stehen kann.

Die passende Pointe zum allgemeinen Frust hat die Flugbereitschaft der Bundeswehr geliefert. Ausgerechnet an dem Tag, an dem die verstörende Beamtenbund-Umfrage erschien, wurde unserer Bundesaußenministerin zugemutet, im frauenfeindlichen Dubai zwangzuspausieren, weil die deutsche Staats-Airline offenbar nur noch Pannenflieger hat. Besonders peinlich für die sitzen gelassene Annalena Baerbock: Die havarierte Regierungsmaschine musste zu allem Überfluss mal eben hundert Tonnen Kerosin in die Luft ablassen. Das Erschrecken ob der mit Händen zu greifenden öffentlichen Leistungslücken wäre wahrscheinlich weniger groß, hätte Deutschland nicht lange als europäischer Klassenbester in Sachen Effizienz und reibungsloser Abwicklung gegolten. Das war wohl immer übertrieben, aber man hat es sich gern gefallen lassen.

Jetzt wird wieder übertrieben, nur halt nach der anderen Seite. Alles ist schlecht, und was wirklich nicht gut läuft, wie etwa das vorzeitige Aus der von vielfaltsbesoffenen Sportredaktionen hochgejazzten deutschen Fußballfrauen bei der WM, wird mit einem resignativen „man hat es ja kommen sehen“ als Bestätigung der trüben Standortlage verbucht. Deutschland sei als „Mittelzwergmacht“ entlarvt, schrieb die Frankfurter Allgemeine mit grimmiger Ironie. Abhilfe ist nicht in Sicht. Woher sollte sie auch kommen? Bestimmt nicht von der AfD, die gezielt die schlechte Laune anheizt und daher momentan als einzige von der Missstimmung profitiert. Sonthofen-Strategie nannte man das früher – in Anlehnung an den streitbaren Franz-Josef Strauß. Dabei weiß jeder, der sich einen Rest von Verstand bewahrt hat, dass auf diese „Alternative“ zu setzen hieße, einer Influenza mit Todessehnsucht zu begegnen.

Leider bleibt festzuhalten, dass die amtliche Politik der grassierenden Übellaunigkeit wenig entgegensetzt. Dank „Scholzomatik“ darf eine nachnominierte grüne Familienministerin es sich herausnehmen, in kindlichem Trotz dringend notwendige Kabinettsbeschlüsse zu blockieren. Mutloses Führungsverhalten allerorten: Wie lange noch will sich der ZDF-Intendant von Herrn Böhmermann zum Narren halten lassen, wie lange noch der Bundeskanzler von Frau Paus?

Womit wir bei uns wären, bei uns Bürgern. Irgendwie haben wir ja etwas damit zu tun, dass ausgerechnet die Politiker, die wir nicht genug kritisieren können, an den Schalthebeln sitzen. Und irgendwie sind wir auch in die Übel verwickelt, die wir gerade so lautstark beklagen. Nehmen wir Bürokratismus, der als eine Ursache angesehen wird, weshalb unsere Wirtschaft nicht auf Touren kommt. Der deutsche Beamte ist vielleicht auch nicht mehr das, was er einmal war. Aber der Verwaltung den Ehrgeiz zu unterstellen, uns Bürger mutwillig durch eine immer undurchdringlicher werdende Paragraphenfülle am Marterpfahl zu grillen, erscheint doch reichlich verschwörungstheoretisch. Nüchtern betrachtet, geht die gefühlte Umzingelung durch sich verschränkende, teils widersprüchliche und sich gegenseitig außer Kraft setzende Vorschriften hauptsächlich auf uns selbst zurück. Genauer: Auf unser pathologisches Verlangen nach Einzelfallgerechtigkeit. Bei jedem Gesetz entdecken wir ein Haar in der Suppe, fühlen wir uns schlechter behandelt als der Kollege. Und immer ist ein Verband, eine NGO, eine Bürgerinitiative zur Stelle, ruft die Gerichte an und verlangt nach Revision im Sinne der Gleichbehandlung. Die Folge sind Regelungen, die bandwurmartig Ausnahmetatbestände aufreihen und zuverlässig dafür sorgen, dass die prima causa des Gesetzgebers in Nebelschleiern verdimmt. Dabei haben Gesetze dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu entsprechen und nicht, es jedem recht zu machen.

Beflügelt wird der eingeborene Hang zur Einzelfallgerechtigkeit durch einen gesellschaftlichen Großtrend, der das Randständige kämpferisch in den Mittelpunkt zu rücken sucht. In der Demokratie herrscht die Mehrheit. Minderheiten werden toleriert. So war früher in den Büchern zur politischen Bildung zu lesen. Inzwischen ist „Mehrheit“ ein verdächtiges Wort. Es bezeichnet etwas, das nach Dominanzstreben riecht oder auch nach hinterwäldlerisch. Wer behauptet, das Gute zu wollen, darf sich locker über die Mehrheit (sprich: das Volk) hinwegsetzen. Notfalls muss das Volk ausgewechselt werden, wie es vor 70 Jahren der Dramatiker Berthold Brecht in seinem bitterbösen Poem „Die Lösung“ vorschlug:

Nach dem Aufstand des 17. Juni
Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands
In der Stalinallee Flugblätter verteilen
Auf denen zu lesen war, dass das Volk
Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe
Und es nur durch verdoppelte Arbeit
zurückerobern könne. Wäre es da
Nicht doch einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf und
Wählte ein anderes?

Günter Müchler

Zugegeben, Identitätspolitiker tun sich noch schwer, die hier empfohlene Rezeptur in die Tat umzusetzen. Umgekehrt ist es noch schwieriger, das Ganze im Blick zu halten, wenn nur noch die Einzelteile zählen. Das Erfolgsstück, das im großen Gesellschaftstheater gegenwärtig der absolute „Bringer“ ist, heißt „Gendergerechtigkeit“. Nun ist nicht zu bestreiten, dass Minderheiten um ihre Respektierung kämpfen müssen, wollen sie nicht von der Mehrheit an die Wand gedrückt werden. Aber Minderheiten achten ist eines, die Mehrheit missachten etwas anderes. Dieser Tage erfuhr man aus der Zeitung von der Absicht, bei künftigen Schwimmsportfesten Rennen speziell für Transgender-Athleten durchzuführen. Natürlich klopfte sich der Schwimm-Weltverband World-Aquatics bei der Ankündigung gehörig auf die Schulter: „Dieses bahnbrechende Pilotprojekt unterstreicht das unerschütterliche Engagement der Organisation für Inklusion, die Schwimmer aller Geschlechter und Geschlechtsidentitäten willkommen heißt“.

Freuen wir uns also auf die hundert Meter Schmetterling exklusiv für Transgender-Leute! Natürlich wird das nur der Anfang sein, im Sport und überhaupt. Der Aufbau einer neuen Ständegesellschaft ist in vollem Gang. Nur dass die Eintrittsbilletts nicht mehr nach Stammbaum oder Steuerkraft vergeben werden, sondern nach Sexus. Getrennte Toiletten auch für das dritte Geschlecht fordert die sächsische SPD. Wahllisten mit Frauen-Parität wünscht sich die Bundestagspräsidentin. Darf man fragen, Frau Bas, wo da die Transgender-Gerechtigkeit bleibt?

An Finanzmitteln für die schöne Regenbogen-Welt ist kein Mangel. Fördertöpfe finden sich überall in den Haushalten von Bund, Ländern und Kommunen. Auch Wirtschaftsunternehmen, die nah am Wind segeln wollen, lassen sich nicht lumpen. Gleichstellungbeauftragte ist ein Beruf mit Zukunft. Deutschlands Hochschulen bieten zu wenig Plätze für Nachwuchsmedizin, stattdessen glänzen sie mit gut zweihundert Lehrstühlen für Gender-Forschung.  Buchverlage ächzen unter Absatzrückgängen, richten aber Speziallektorate ein, die Manuskripte nach N-Wörtern und anderen rassistischen Schmähungen durchsuchen. Neu sind bei musikalischen Großkonzerten und Sport-Events sogenannte Awareness/Teams. Sie sollen sexistische Übergriffe unterbinden und melden. Das Besondere im Konzept der Awareness (Achtsamkeit) ist: Betroffene (Frauen, Farbige) verfügen über die Definitionsmacht. Was bedeutet, sie müssen nicht beweisen, dass sie belästigt worden sind. Es gilt ihr subjektives Empfinden.

Der Ausflug in die Welt des Genderns hat etwas Tröstliches. Vermutlich befinden wir uns hier in der letzten Galaxie, in der Personalnot kein Thema ist. Überall sonst entwickelt sich der Mangel an Arbeits- und Fachkräften pandemisch. Was tut die Politik dagegen? Zunächst einmal nichts und dann das Falsche. Jahrzehntelang wurden die Warnungen der Bevölkerungswissenschaftler in den Wind geschlagen. Dann, als selbst Blinde sahen, dass mit sinkenden Geburtenraten auch die Arbeitskraft schrumpfen würde – und zwar auf Dauer – setzte die Politik auf einen Schelmen anderthalbe. 2014 erfand die Große Koalition die Rente mit 63. Angeblich sollte diese Neuerung jene Mitbürger, die körperlich besonders hart geschuftet hatten, belohnen. Tatsächlich aber sind es überwiegend Gesunde und Gutverdiener, die die Vorlage aufgreifen und vor 63 den Hut nehmen.  Ein krasserer Fall von Fehlsteuerung lässt sich kaum vorstellen. Schließlich war der Arbeitsmarkt schon 2014 welk, die Reform entzog ihm weitere Lebenskräfte.  Die damals im Kabinett zuständige Arbeitsministerin Angela Nahles (SPD) hat inzwischen den Job gewechselt. Als Chefin der Bundesagentur für Arbeit ermahnte sie kürzlich die Unternehmer, Programme der Frühverrentung ultimativ zu kappen – späte Einsicht.

Fehler unterlaufen Politikern immer wieder. Sei es weil die Handelnden Wunschdenken aufsitzen, sei es weil sie auf billigen Beifall aus sind. So unterstützte noch neulich die sozialdemokratische Co-Vorsitzende Saskia Esken die in Gewerkschaftszirkeln ersonnene Forderung nach Einführung der Vier-Tage-Woche. Nun sollte man jedoch Politiker nicht über Gebühr schlecht reden. Viele sind gut, und die meisten wollen wenigstens das Richtige. Leider besitzen sie nur selten die Courage, bestimmten und gemeinwohlschädlichen menschlichen Konstanten (Bequemlichkeit, Egoismus) mit der nötigen Entschiedenheit entgegenzutreten. Schuld an der Entwicklung des Arbeitsmarkts ist jedoch nicht allein die Politik und schon gar nicht der Staat, dem – siehe die oben erwähnte Umfrage des Beamtenbundes – die Menschen alles Mögliche zutrauen, nur nicht die Lösung der großen Probleme. In der Mitverantwortung stehen wir alle.

Ein vielzitierter Jokus aus dem deutsch-französischen Kulturvergleich lautet: Franzosen arbeiten um zu leben; Deutsche leben um zu arbeiten. So recht hat das Klischee vermutlich noch nie gestimmt. Heute stimmt es schon gar nicht. Tatsächlich rangieren die Deutschen bei der Inanspruchnahme von Freizeit mittlerweile EU-weit an zweiter Stelle. Wenn sie nach ihrer Wunscharbeitszeit gefragt werden, lautet die mittlere Ansage 32, 8 Wochenstunden. Beliebt ist vor allem Teilzeitarbeit. Nur noch drei von vier deutschen Arbeitnehmern arbeiten in Vollzeit. Von den Frauen sind mehr als die Hälfte teilzeitbeschäftigt.

Wer in Teilzeit arbeiten will, kann nicht nur auf die Nachsicht des Umfelds rechnen („Ach, wie schön, beneidenswert!“). Er befindet sich im Einklang mit dem Zeitgeist und hat, was noch besser ist, gesellschaftliches Lob sicher. Schließlich zeugt es von einer gewissen Selbstlosigkeit, wenn man sich stärker der Kindererziehung widmen will, der Angehörigen-Pflege oder ehrenamtlicher Tätigkeit. Oft ist es tatsächlich der Wille, Verantwortung für andere zu übernehmen der die Entscheidung für Teilzeit herbeiführt. Die Regel ist es allerdings nicht.  Als das Statistische Bundesamt 2022 nach den Antrieben für die Teilzeitabsicht fragte, nannte nur jeder Vierte die Kinder; auch die Betreuung pflegebedürftiger Eltern spielte in der Selbstauskunft eine nachgeordnete Rolle. Eine weitere Zahl: Noch nicht einmal jede zweite Frau, die in Teilzeit arbeitete, besaß eigenen Nachwuchs unter 18 Jahren (Quelle: Patrick Bernau. Milliarden für die Teilzeit, FAZ, 13. August 2023).

Die Auskünfte der Empirie mögen nicht wirklich überraschen. Man kennt ja doch seine Pappenheimer in Verwandtschaft und Bekanntschaft. Zu denken gibt allerdings, dass Politiker und Sozialverbände trotzdem darauf beharren, verbesserte Teilzeitmöglichkeiten seien ein wahrer Gesundbrunnen für das Gemeinwesen, weil sich allein nur so noch Beruf und Familie miteinander vereinbaren ließen. „Leider Poesie“, hätte dazu Friedrich Wilhelm III. gesagt, der furztrockene Preußenkönig. Und in der Tat: Wer Teilzeit will, denkt in der Regel nicht an Andere. Er denkt an sich und seine „work-life-balance“.

Mehr Freizeit durch Teilzeit: Die trendige Formel klingt gut, hat aber – massenhaft befolgt – massive und durchaus unerwünschte  Auswirkungen. Übrigens auch für die Staatsfinanzen. Reduziert jemand nämlich sein Arbeitspensum, zahlt er anteilig weniger Steuern, weil sich der Effekt der Progression gleichsam umdreht. Dem Fiskus entgehen auf diese Weise Milliarden, die dann fehlen, beispielsweise bei der Ausstattung der Schulen. Zugegeben, die Rechnung ist ziemlich kompliziert. Leichter versteht man, was sonst noch passiert. Die Aufblähung der Teilzeit verschärft künstlich die schon vorhandene natürliche Schrumpfung der Manpower: Noch weniger Lehrer, noch weniger Pflegepersonal, noch weniger Bäcker und Fleischer, noch weniger Polizisten und Feuerwehrleute. Im Gegenzug: Noch mehr Klagen über den Staat und seine Unfähigkeit, unsere Probleme zu lösen.

Dabei sind wir es, die (wenigsten das eine oder andere) Problem schaffen. Wir halsen dem Staat etwas auf, wenn wir alle Hebel in Bewegung setzen, immer weniger zu arbeiten. Aufgeklärten Bürgern müsste das klar sein. Gewiss, jedem sei ein Mehr an Freizeit gegönnt. Aber man sollte sich nicht einreden (lassen), Selbstverwirklichung und Gemeinwohlverantwortung gingen automatisch Hand in Hand. Eher ist das Gegenteil der Fall. Wer unbedingt Sozialpunkte sammeln will, sollte der Caritas spenden, statt die Arbeitszeit zu reduzieren.

Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.

 

 

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