Aus dem Schwäbischen übertragen von Jörg Bischoff

Wilhelm Dodel

An einem stattlichen Gebäude in unmittelbarer Nähe des Klosterhofs in Blaubeuren ist ein steinernes Schild mit der Schrift angebracht: „Hier tat Wilhelm Dodel im Jahr 1900 seinen Dienst als Oberamtsrichter“. Von 1892 bis 1913 war er in Blaubeuren aufgetaucht, dem württembergischen Amtsstädtchen unweit von Ulm. Dodel hat nicht nur als Oberamtsrichter in Juristenkreisen von sich reden gemacht, sondern auch als „schwäbischer Salomo“ oder auch nach dem „Blautopf“, der berühmten Quelle des in Ulm in die Donau mündenden Flüsschens Blau, „Blautopfkretzer“. Oder ganz einfach „der Dodel von Blaubeuren“, wie er sich selber nannte.

Vom Gerber zum Juristen

So war er, der Oberamtsrichter Wilhelm Dodel, der später auch Landgerichtsrat werden sollte.  Sein Gerichtsbezirk umfasste das Oberamt Blaubeuren, das zwischen den Oberamtsbezirken Ulm, Münsingen, Urach und Ehingen lag und aus Gemeinden wie  Asch, Berghülen, Machtolsheim, Merklingen, Nellingen, Seißen, Suppingen und anderen Gemeinden des Ulmer Landes bestand.

Dodel stammte aus Ebingen auf der Schwäbischen Alb. Der Vater war Rotgerber, ein Handwerk, das auch der Sohn gelernt hatte. Wilhelm Dodel wurde am 25. März 1850 als Sohn des Wilhelm Adam Dodel und dessen Ehefrau Maria Magdalena in Ebingen geboren. Er erlernte, wie gesagt,  den Beruf seines Vaters, studierte dann Jura, legte ein Examen ab. Manche sagen, er habe einen „Brucheinser“ hingelegt. Für diesen beim berühmten bayerischen Juristen Ludwig Thoma auftauchenden Begriff gibt es zwei unterschiedliche Erklärungen. Die einen sagen, der Brucheinser sei eigentlich eine Vier (also eine Eins mit Querstrich), die andern deuten den Begriff so, als seien die Bruchstellen hinter der Eins bis zur Zwei, also 1,2 bis 1,9 gemeint). In Ludwig Thomas Novelle „Der Vertrag“ ist wohl die erste Version zu vermuten.

„Die Akten brennen gut“

Amtsgericht in Marbach am Neckar

Seine erste Richterstelle trat Dodel am Amtsgericht in Marbach am Neckar an – also dort, wo auch Friedrich Schiller geboren wurde. In Marbach heiratete er am 6. März 1882, im Alter von 32 Jahren, die Wirtstochter Sofie Speidel. Doch zuvor war er noch Gerichtsassessor am Justizministerium in  Stuttgart. Dort loderte eines Tages ein Brand auf. Und was kümmert einen Juristen mehr als seine Akten. Als Dodel den Landgerichtspräsidenten traf, der ein Bündel ins Freie schleppte und ihn, Dodel, aufforderte, dasselbe zu tun, da antwortet Dodel auf schwäbisch nur: „Ich hab das schon zuhause so gmacht. Die Akte brennen ja gut“.

Dodel pflegte einen von seiner schwäbischen Herkunft geprägten Umgang mit seiner Klientel, die ihn zwar in Marbach beliebt gemacht hatte, nicht jedoch beim liberalen württembergischen Justizminister Eduard von Faber. Jahrelang hatte sich Dodel um ein freiwerdende Stelle in einem Oberamt bemüht, aber Faber störte Dodels betont schwäbische Art.. Als Dodel eines Tages vorreiten musste, hielt er dem Justizminister entgegen: „Wisset Sie, Exzellenz, ich kann auch noch was anderes: Ich kann auch Kuhschwänz verkaufen“ So erinnerte er den Justizminister in seiner schwäbischen Art daran, dass er selber das Gerberhandwerk bei seinem Vater gelernt hatte.

Mit Spitzbart und Schlapphut

Damit aber war es mit von Faber ganz aus. Erst 1892 – der Justizminister war zwar noch im Dienst, aber wegen eines Atemleidens schwer erkrankt – gelang es Dodel, Oberamtsrichter zu werden, und zwar in Blaubeuren. Dort entwickelte er sich zum legendären „schwäbischen Salomo“. Er war ein hagerer Mann mit Spitzbart und Schlapphut. Immer wieder streifte er, mit dem Operngläschen bewaffnet, durch Blaubeuren und die Dörfer seines Bezirks. Fasste die Leute am Knopf und sprach sie an.

 Auch seine Verhandlungsführung und manchmal die Urteilsfindung machten ihn als „Schwäbischer Salomo“ in Juristenkreisen berühmt. So ließ Dodel beispielsweise bei Bauern, Viehhändlern oder Geißhirten gerne seinen legendären „scharfen Eid“  schwören: Sie mussten eine Hand auf den Richtertisch legen (damit sie den Eid nicht ableiten konnten) und hatten zu sagen:, „Wahr ist es und ich lüge nicht, so wahr mir sonst alles mein Vieh verreckt!“ Dieser scharfe Eid, der große Wirksamkeit erzeugte, ist allerdings auch von anderen Amtsrichtern vor Dodels Zeit bekannt geworden, sodass man ihm dies wohl nur zugeschrieben hat. Oder er hat ihn halt einfach abgekupfert.

Gepflegte Vorurteile

Ehemaliges Amtsgericht und Sitz des Richters Dodel. Erbaut 1853/54 steht das Gebäude heute unter Denkmalschutz.

Dodel pflegte auch seine Vorurteile: „Jäger, Fischer, Schäfer, Lompen, die wachset auf alle Stompen“.  Oder gegenüber einer alten Jungfer: „Eine  alte Geiß, schleckt au noch gern Salz“. Und als ein Holzmacher einen Landjäger als Rindvieh tituliert hatte, da fragte Dodel: „Hot der Isidor auf den Landjäger auch geschimpft? „Ja und zwar saumäßig“, antwortete der Landjäger. Dodel: „No war der Isidor bei Verstand“. Als eine Visite aus Ulm bevorstand, konnte der Ulmer Landgerichtspräsident beim Betreten des Klosterhofs Blaubeuren den Dodel schon von weitem hören. „Wer schreit denn da so laut?“, fragte der Präsident den Gerichtsdiener. Die Antwort: „Das ist doch der Herr Oberamtsrichter, der macht gerade einen Vergleich“.

Als eines Tages einem Bauern von Merklingen auf der Alb in der Wut des Gegners ein Ohrläppchen abgebissen wurde, da urteilte Dodel: „Der hot doch zwei Ohrlappen? Der Kerle auf der Alb droben, der hört mit einem Ohrlappen immer noch viel“. Und als die zuvor erwähnte Jungfer sich beleidigt fühlte, weil ihr Nachbar namens Hohnerlein ihr angeblich aus seinem Fenster seinen nackten verlängerten Rücken gezeigt habe, da fragte Dodel die Klägerin, wo denn ihr Anwalt aus Ulm beim Termin bleibe. Ob sie ihn nicht bezahlt habe? fragte Dodel mit der Bemerkung: „Ohne Schuß kein Jus“ Am Ende stellte sich heraus, dass es nicht der verlängerte Rücken, sondern die Glatze des Beklagten war, die sich da am Fenster gezeigt hatte, Dodel entschied: 1. Falls je die blanke Rückenverlängerung in Erscheinung getreten wäre, sich die Privatklägerin daran nicht verletzt, sondern verlustiert habe, 2. Aber weil mit größerer Wahrscheinlichkeit überhaupt keine Beleidigungshandlung vorgelegen hat, da die harmlose Glatze des Angeklagten Hohnerlein zum Fenster hinaus und herein gerade so bloß wie ein blanker verlängerter Rücken aussieht“.

Ein legendärer Zwangsvergleich

Bekannt geworden ist auch Dodels legendärer Zwangsvergleich. Prozessbeteiligte, die sich absolut nicht vergleichen wollten, pflegte er im seinem Vorzimmer an einen Ofen zu setzen, und der Gerichtsdieser namens Mannsschreck (der hieß tatsächlich so) war gehalten, den Ofen auch im Sommer so zu heizen, dass den Beteiligten schnell anderen Sinnes wurde. Allerdings täuschte sich der Oberamtsrichter im Fall zweier Streithammel aus Merklingen und Nellingen, die wegen eines  Schweines vor Gericht erschienen waren und deren Güte-Termin Dodel absichtlich bis ans Ende einer Verhandlungsperiode gelegt hatte..  Einer von Ihnen, vorgewarnt,  sagte aber dem fassungslosen Oberamtsrichter: „Uns können Sie nicht backen, wir  sind selber Bäcker.“

 Eines seiner bekanntesten Urteile war das gegen die Besitzerinnen eines Geißbocks und einer Geiß. Die beiden Geißen waren auf den Krämermarkt in Blaubeuren getrieben worden. Der Bock sah sofort die Geiß und besprang sie, während die Besitzerinnen weiter ins Gespräch vertieft waren. Dabei ging das Geschirr eines Marktstandes in Scherben, und der Inhaber des Standes forderte von den beiden Frauen Schadenersetz. Dodels Urteil: Die Besitzerin des Bocks müsse ein Drittel des Schadens tragen, die Besitzerin der Geiß aber zwei Drittel. Dodels Begründung: Der Bock habe mit zwei Beinen beschädigt, während die Geiß mit vieren.

Ein weiteres Urteil wurde gegen einen Jagdeigentümer gesprochen. Der hatte beobachtet, wie ein Hase unter den Rock der Frau Lehrer des Evangelischen Pfarrerseminars in Blaubeuren geflohen war und der Herr Lehrer sofort mit dem Spaten den Hasen totgeschlagen hatte. Der Jagdeigentümer zeigte den Herrn Repetenten wegen Wildfrevels an. Doch Dodel sprach ihn frei. Denn ein Wildfrevel könne tatbestandsmäßig gar nicht vorliegen, weil, so Dodel, „unter den Röcken der Frau Repetentin das alleinige Jagdrecht dem Herrn Lehrer zusteht.“

Die Schwänze der Ochsen

Ein anderer Fall. Ein Landstreicher hat seine Notdurft am Amtsgericht verrichtet und stand nun vor Dodel. Der Staatsanwalt hatte eine Strafe über zehn Mark vorgeschlagen. Dodel stockte sie auf 15 Mark auf. Begründung: Der Landstreicher hat eine höhere Strafe als im Gesetz stand, verdient, weil er nämlich nicht beachtet hatte, dass gegenüber dem Amtsgericht das Kameralamt  (also das Finanzamt) gewesen wäre.

Blick über die Stadt Blaubeuren © Tourist Info Blaubeuren

In einem anderen Fall war es, dass ein Bauer zwei Ochsen von Seißen die Steige heruntertrieb. Die Tiere aber bockten. Da drehte der Bauer ihnen die Schwänze herum, dass die Wirbel krachten. Dies beobachtete ein Landschütz und zeigte den Bauern vor dem Schöffengericht Blaubeuren wegen Tierquälerei an. Dodel dagegen kannte die Sitten der Bauern genug, wusste aber auch, dass im Gesetz unerbittlich von Tierquälerei die Rede war und dafür eine Strafe gefordert wurde.  Dodel ließ sich deshalb in der Schöffengerichtssitzung von zwei beisitzenden Richtern, beides Bauern, bei einer milden Entscheidung überstimmen. Aber als  Vorsitzender musste er das Urteil begründen. So formulierte er: „Der Angeklagte wird von der Anklage der Tierquälerei von zwei Ochsen freigesprochen. Die Kosten übernimmt die Staatskasse.“

Kein Freund von Anwälten

Auf Anwälte reagierte Dodel besonders sauer. Zwei Anwälte stritten sich vor seinem Gericht über die Beweislast, jeder schob sie dem anderen zu, bis einer ausrief: Ich sage nur: RGZ 167, 275. Dodel reagierte gelassen: „Sie sind aber a billiger Mann, Jetzt bringet Sie mir da eine einzige Reichsgerichtsentscheidung daher, wo mir der Buchbinder von Blaubeure einen ganzen Band um zwei Mark fünfzig verkauft“. Auch ließ er Anwälte gern schmoren. Als alle auf eine Verhandlung warteten, arbeitete Dodel  gemütlich mit Spaten und Egge in seinem Gärtchen und meinte gelassen: „Jetzt wartet nur, bis ich mein Ländle umgegraben habe.“

Dodel liebte Alimentationstermine über alles, die er jeden Donnerstag ansetzte. Er fragte einen Schäfer, wieso er von zwei Frauen verklagt werde, die ein Kind zur gleichen Zeit bekommen hätten. Der Schäfer antwortete: „Wisset Sie, Herr Amtsrichter, ich habe ein Motorrad“. In einem anderen Fall wollte sich ein  Bauernsohn von der Alb mit den Worten entschuldigen, es könne schon sein, dass „ein Tröpfle hineingekommen sei“ Darauf Dodel: „Ja eins! Da braucht es eine ganze Schöpfkelle voll?“

Fehltritt des Kirchenpflegers

Einem Kirchenpfleger aus dem Dorf Asch war auch so ein „Missgeschick“ passiert. Er hatte sich, obwohl ein anständiger und im Dorf als gottesfürchtig angesehener Mann, an einem Mädchen vergangen und als frommer Kirchendiener zur Entschuldigung natürlich Gott angerufen: „Gott hat mich fallenlassen“. Darauf Dodel: “Aber nicht nur auf des Mädchen“. Ansonsten aber war Dodel prüde. Frauen gegenüber argumentierte er mit Argwohn. Sie hatten vor Gericht bei Dodel nicht viel zu lachen.  

Blaubeuren, auch „Blautopfstadt“ genannt, gilt als Perle der Schwäbischen Alb

Auch im Umgang mit Leuten war Dodel ein Rätsel. Als ihn bei einem Besuch in Ulm ein Gerichtsdiener ansprach, „Du bist doch der Dodel von Blaubeuren“, da beschwerte sich Dodel beim Amtsvorstand, dass ein ihm Untergebener ihn geduzt habe. Wenn ihm aber ein Bauer respektvoll begegnete, konnte er durchaus leutselig sagen: „Sag nur Dodel zu mir“. Er fügte aber meistens hinzu: „Wenn Du aber meiner Gnädigsten begegnest, die ist natürlich die Frau Oberamtsrichter“ Aber als sich einmal ein Suppinger Bauer von seinem Knecht durch den schwäbischen Gruß („Legg me am Arsch“) beleidigt fühlte, da fragte Dodel: „Ja haben Sie es auch gemacht?“. Auf die Erwiderung des Angeklagter, der schwäbische Gruß sei „bei uns nicht so schlimm“, da antwortete Dodel: „Ja, soll des vielleicht eine freundliche Aufforderung sein?“.

Royale Orden und Beförderungen 

Aber allzu groß war die Abneigung des Publikums gegenüber Dodel allerdings auch nicht. So stand am 25. Februar 1909 im Amtsblatt in Blaubeuren, Dodel sei anlässlich des Geburtstages seiner Majestät des Königs der Titel und Rang eines Landgerichtsrats zugesprochen worden. Und zwei Jahre später war dort zu lesen “S. Majestät der König haben anläßlich des allerhöchsten Geburtstages u. a. folgende Auszeichnungen verliehen: Das Ritterkreuz erster Klasse des Friedrichsordens für Landgerichtsrat Dodel, Blaubeuren.“ Als dieser wegen des Ordens vom Publikum ehrfürchtig angesprochen wurde, da antwortete er freilich bescheiden: „I brauche so ein Blechle net. Das ist etwas für die Weiber. Die freuen sich“

So ging es mit Dodel. Als er pensioniert wurde und nach Ulm umzog, weil seine Tochter dort ins Gymnasium ging, soll er einsam geworden sein, aber immer noch Leute auf der Straße angesprochen, sie am Westenknopf festgehalten und ausgefragt haben, woher sie kämen und wohin sie wollten. Nach dem Tod seiner Frau holte ihn sein Sohn, ein Nervenarzt, zu sich nach Nürnberg, wo er  den Vater – der inzwischen ein geistig kranker Mann geworden war – in eine Anstalt einwies. Am 24. Januar 1934 starb der Richter Wihelm Dodel, 84 Jahre alt, im Siechenheim der Rummelsburger Anstalten, Gemeinde Mosbach, Landkreis Nürnberg.

 

 

 

 

 

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