Selber denken? Wozu denn?
Von Gisbert Kuhn
Die Klage über (angeblich oder tatsächlich) vergessene gesellschaftliche Werte ist wahrhaftig nicht neu. Im Grunde zieht sie sich durch die Geschichte der Menschheit – jedenfalls soweit deren Inhalte überliefert sind. Geradezu beispielhaft dafür ist der gleich mehrfach dokumentierte Stoßseufzer des großen römischen Rhetorikers Cicero, „O tempora, O mores. Quem rem publicam habemus“ – auf deutsch: „O Zeiten, O Sitten, was haben wir bloß für einen Staat!“. Das liegt mehr als 2000 Jahre zurück, könnte aber gleichwohl von heute stammen. Man erkennt also wieder einmal, dass früher keineswegs alles besser gewesen ist.
Dessen durchaus eingedenk, stellt sich trotzdem die Frage nach dem mittlerweile fast schon Litanei-artig betonten „Mehrwert“, wenn einstmals als selbstverständlich angesehene Begriffe und Verhaltensformen wie Anstand, Kinderstube, Höflichkeit, Grüßen, Bitten usw. mehr und mehr in die Abstellkammer des Altmodischen verschoben werden. Gemeint ist „Mehrwert“ im Sinne und zugunsten der Gesellschaft und ihres gedeihlichen Zusammenlebens. Wer mag, sollte einmal einen kleinen Test starten: Einfach beim Betreten eines Bäckerladens oder des Wartezimmers in einer Arztpraxis vernehmlich (und vielleicht sogar noch fröhlich) „Guten Tag“ sagen. Der geneigte Leser wird sich wundern, wie viele Köpfe überrascht nach oben gehen, wie viele Blicke sich irritiert von den kleinen Tippgeräten in den Händen lösen und fragend auf den Neuankömmling richten. Und wie dann manchmal tatsächlich zögerlich vereinzelt zurück gegrüßt wird. Mit anderen Worten – eine im Grunde banale Selbstverständlichkeit im Umgang miteinander wird bereits weitgehend als ungewöhnlich empfunden…
Der Ton in Deutschland sei in den vergangenen Jahren deutlich „rauer“ geworden. Das sagen übereinstimmend Lehrer, Rettungssanitäter und auch Polizisten. Psychologen erklären das gern als Folge des angeblich gestiegenen Drucks in der Arbeitswelt. Andere „Experten“ beklagen wachsende soziale Ungerechtigkeiten. Doch reicht das wirklich aus als überzeugende Erklärungen für schlechtes Benehmen? Oder für das kriminelle Verhalten veritabler Schlägerbanden (von vielen Medien erstaunlicherweise immer noch als „Fans“ verharmlost) in den Fußballstadien? Oder für Pöbeleien und tätliche Übergriffe in öffentlichen Verkehrsmitteln? Oder für – nicht selten sogar rassistisch motiviertes – gemeines Mobbing teilweise schon den Grundschulen?
Nein, es ist manches faul und läuft vieles schief im Staate Deutschland. Nicht zuletzt bei der Debatten- und Streitkultur. Mag sein, dass diese hierzulande noch nie so wirklich ausgeprägt war. Umso wichtiger wäre sie heute, angesichts der Häufung und wachsenden Unüberschaubarkeit von Problemen, die als Folge der modernen Kommunikationsmaschinerie von rund um den Globus geradezu lawinenhaft auf die Menschen herabstürzen. Keine Frage – einerseits bietet das Internet mit seinen diversen „sozialen“ Medien bis vor kurzem nie geahnte Möglichkeiten einer umfassenden Information. Aber auf der anderen hat es Tür und Tor geöffnet für Lügen, plumpe und subtile Fälschungen sowie Verunglimpfungen im Einzelnen wie in der Masse.
Nicht zufällig wurde diesen „Veranstaltungen“ der Begriff „shitstorm“ verpasst – ein Anglizismus, der wohl keiner Übersetzung bedarf. Das Perfide daran ist zudem, dass die Initiatoren die seelische (und mitunter auch körperliche) Zerstörung ihrer Opfer nicht nur billigend in Kauf nehmen, sondern zumeist von vornherein beabsichtigen. Dass mit solchen Aktionen die Axt in den Stamm des gedeihlichen Zusammenlebens einer jeden Gemeinschaft geschlagen wird, braucht vermutlich keine nähere Erklärung. Es ist ja auch so einfach, sich im Strom von Unflat, Unkenntnis, Dummheit oder auch listiger Gemeinheit mitziehen zu lassen und so selbst als absoluter Nobody die Genugtuung zu verspüren, in der Welt etwas geleistet zu haben. Gleichgültig, worum es geht. Nachdenken ist nicht nötig. Wozu auch? Massengebrüll bewirkt mehr als es einzelne, nachdenkliche Stimmen tun.
Ist es da ein Wunder, wenn die für eine Demokratie lebensnotwendige, aber zwischen Flensburg und Konstanz sowie Rhein und Elbe ohnehin schon nicht sonderlich ausgeprägte Streitkultur völlig vor die Hunde geht. Nehmen wir ein aktuelles Beispiel: Da schlägt Friedrich Merz (nur zur Erinnerung: Einer der Bewerber um die Merkel-Nachfolge auf dem CDU-Thron) vor, angesichts der millionenfachen Völkerwanderungen auf der Erde über eine mögliche Reform des deutschen Asylrechts nachzudenken. Wohlgemerkt: Er fordert nicht etwa die Abschaffung dieses Grundrechts, sondern nur eine politisch-gesellschaftliche Diskussion. Und schon erfolgt der übliche mediale und parteipolitische Reflex bis hin zu (wahrscheinlich sogar gewollten) Missverständnissen. Man muss die Vorstellung von Merz ja überhaupt nicht teilen, kann sogar fundamental anderer Auffassung sein. Aber Denkverbote erteilen zu wollen, ist ganz gewiss nicht der richtige Weg. Inwieweit wohl die scheidende CDU-Chefin, Angela Merkel, diesen Vorgang interessiert verfolgt? Immerhin hat sie ja ebenfalls solche Erfahrungen über viele Jahre machen müssen.
Lieb´ Vaterland, magst ruhig sein? Schön wäre es.