Demokratie, Vertrauensverlust und Kröten
Von Günter Müchler
Unter multipler Krise versteht man einen schwindelerregenden Zustand, bei dem es einem die Füße wegzieht, die Arme fesselt, Hören und Sehen vergeht. Und das alles jetzt und auf einmal. Folgen wir Mario Draghi, befinden wir uns mittendrin in einer solchen Krise. Der Italiener, der auftragsgemäß der EU den Puls gefühlt hat, ist als ehemaliger und langjähriger Präsident der Europäischen Zentralbank nicht irgendwer. Sein Urteil hat Gewicht. Die Hauptkrisensymptome, die er aufzählt – Überalterung der Gesellschaft, Schwund der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit, vorhersehbarer Klimawandel, unfinanzierbare Sozialsysteme – sind hinreichend bekannt. Zusammengenommen sind sie wie die schwarze Wand der heraufziehenden Apokalypse. Apokalyptische Ausmaße haben freilich auch die Geldmengen, die der Diagnostiker für die Genesung ansetzt. 750 Milliarden Euro soll Europa Jahr für Jahr für die Zeitenwende investieren. Wenn nicht, drohe ein „langsamer, aber qualvoller Niedergang“.
An Draghis Vorschlägen verstimmt, dass der Heilungsplan nur die Verschuldung kennt. Besser wäre gewesen, zusätzliche Kraftreserven einzubeziehen, beispielsweise Sparen und eine Entfesselung der Wirtschaftskräfte durch weniger Vorschriften. An der Diagnose hingegen ist nichts auszusetzen. Aus deutscher Perspektive könnte man den Katalog der Baustellen sogar noch mühelos ergänzen: Überforderung durch unkontrollierte Einwanderung, anschwellende Terrorgefahr, dazu das schier bodenlose Fass der Infrastruktur-Rückstände mit der bummelnden Bundesbahn als Ausrufungszeichen und Widerlegung des Glaubens an deutsche Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit. All diese schwarzen Löcher existieren wirklich. Sie sind so wenig Hirngespinste wie der noch gar nicht eingepreiste russische Krieg und die verfallende Autorität der Bundesregierung. Trotzdem wäre es falsch, das Handtuch zu werfen oder sich dem Rausch der Untergangsphantasien hinzugeben.
Wieder lohnt der Blick zurück. Wie war es nach 1945? Deutschland moralisch wie materiell ein Trümmerfeld, durchzogen von Abermillionen Vertriebenen, Flüchtlingen, Kriegsheimkehrern und anderen Unbehausten. Ein Land ohne Freunde und ohne die Aussicht, welche zu gewinnen. Niemals gab es bessere Gründe, alle Hoffnung fahren zu lassen. Doch dann kamen die ungeahnte Wende und ein Aufstieg, der erleichtert war durch glückliche Umstände und dennoch kein Wunder, sondern das Werk kluger und entschlossener Politik. 75 Jahre ist es her, dass in der ehemaligen Pädagogischen Akademie von Bonn am Rhein der Bundestag zu seiner ersten Sitzung zusammentrat. Und womit niemand rechnen konnte, geschah: Auf dem Fundament eines hart erarbeiteten neuen Wohlstands erwuchs eine der stabilsten Demokratien der Welt.
An dieser Stelle ist ein Wort zur politischen Situation in Thüringen und in Sachsen keine Abschweifung. Es stimmt, in beiden Ländern hat die Hälfte der Wähler für Parteien gestimmt, die vom Parlamentarismus, wie wir ihn kennen, und vom Geist unseres Grundgesetzes ziemlich weit entfernt sind. Angeführt werden sie von ruchlosen Demagogen. Die wissen genau, dass die Probleme dieser Welt so verschlungen sind wie die Figuren der vatikanischen Laokoongruppe (das Sprachbild stammt vom Verfassungsrechtler Peter M. Huber). Das hält sie freilich nicht davon ab, Entfesslungskünste anzupreisen, die kein Zirkusakrobat überleben würde. Ja, der Populismus ist ein schlimmes Geschwür der multiplen Krise, mit der wir es zu tun haben; einer Krise, die er schürt und die ihn nährt. Das bedeutet aber nicht, dass unsere Demokratie in Deutschland soeben ihr letztes Dienstjubiläum gefeiert hätte.
Ohne den Stuck und die Verzierungen politischer Festreden ist die Demokratie ein recht einfaches Konstrukt und gerade deshalb wohl so sturmfest. Der Staatsrechtler Horst Dreier nennt sie eine auf kollektiver Selbstbestimmung Freier und Gleicher zielende Herrschaftsform, die ein Organisationsproblem zu lösen hat. Das Organisationsproblem ist die Bildung einer Regierung. Gott behüte!, möchte man in Bezug auf Thüringen und Sachsen und womöglich bald Brandenburg ausrufen. Dort sind vor allem die Landespolitiker der CDU um ihre Organisationsaufgabe nicht zu beneiden. Sie können scheitern und müssen, selbst wenn sie erfolgreich sind, auf Verleumdung und Unterstellungen gefasst sein.
Es gibt genug Zeitgenossen, die schon jetzt ihre Geschütze mit der Streumunition des uferlosen Rechtsradikalismus-Verdachts füllen. Sie übersehen, dass Demokratie kein gesinnungsethischer Schönheitswettbewerb ist. Regiert muss werden, Mehrheiten sind zu beschaffen und zu respektieren. Das Ignorieren von Mehrheiten hingegen schmälert das, worauf die Demokratie beruht: das Vertrauen. Bürger sind da sehr empfindlich, besonders im Osten. Ein Refrain im Nachklang der jüngsten Wahlen war die die Klage darüber, dass man nicht ernst genommen werde. Und die wirkungsvollste rhetorische Schleife der AfD war und ist der Vorwurf der Unfairness. Diese Trumpfkarte sollte man ihr nehmen. Der AfD in einem Parlament, wo sie stärkste Kraft ist, nicht den Präsidentenposten zu verweigern, wäre eine sinnlose Demonstration. So lässt sich vielleicht die Unschuld bewahren, aber verhütet wird nichts.
Regeln nach Gutdünken zurechtzubiegen, wird bestraft, und das Auto immer wieder in dieselbe Sackgasse zu lenken, ist töricht. Glaubt jemand ernsthaft, es werde einmal in den Geschichtsbüchern stehen, der Rechtsextremismus sei durch Brandmauern aus der Welt geschafft worden? Sie werden Kröten schlucken müssen, die Parteien des neuerdings so genannten demokratischen Zentrums. Die multiple Krise, die zu Recht als Zeitenwende verstanden wird, verlangt es.
Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.
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