Interview mit Dr. Anton Wirmer / Sein Vater gehörte zum Widerstand gegen Hitler

v.l.n.r.: Dr. Anton Wirmer, NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst und Tobias Scherf, Bürgermeister von Warburg. Warburg ist der Geburtsort von Josef Wirmer. Bereits 1949 errichtete die Stadt dort eine Gedenkleuchte für Wirmer und den deutschen Widerstand.

Am 20. Juli jährt sich zum 80. Mal der Jahrestag des Attentats von Claus Graf von Stauffenberg auf Adolf Hitler. Das Attentat misslang. Was passierte eigentlich mit den Kindern der Widerstandskämpfer, wie erlebten sie die damalige Zeit, welche Erinnerungen begleiten sie, wie sehen sie den Zustand unseres Landes heute und was sind für sie die bleibenden Lehren des 20. Juli 1944? Darüber veröffentlichte Tim Pröse jüngst ein Buch mit dem Titel „Wir Kinder des 20. Juli“, in dem er Kinder von Widerstandskämpfern porträtiert. Auch Dr. Anton Wirmer. Sein Vater, Josef Wirmer, wurde am 8.9.1944 von Roland Freisler zum Tode verurteilt und noch am selben Tag von den Nazis in Berlin-Plötzensee gehängt. Mit Dr. Wirmer sprach Richard Fischels. Beide waren Kollegen im Bundesarbeitsministerium unter Norbert Blüm. Sie sind seither befreundet.

 Anton, als Dein Vater Josef im September 1944 von den Nazis gehängt wurde, warst Du nicht einmal 5 Jahre alt. Welche Erinnerungen hast Du an Deinen Vater, an den Alltag in Eurer Wohnung in Berlin. Gibt es Bilder, Gedanken, Eindrücke, Vorfälle, die Dir besonders erinnerlich sind?

Im Grunde habe ich keine wirklichen Erinnerungen an meinen Vater. Zumindest keine, von denen ich sagen kann, dass sie eigenem Erleben entsprechen. Ich war damals gut vier Jahre alt und habe meinen Vater selten erlebt. Ich war teilweise auch außerhalb von Berlin auf dem Lande. Es waren die Kriegsjahre nach 1940, in denen mein Vater noch seinem Beruf als Rechtsanwalt nachging und zusätzlich sich immer stärker im Widerstand engagierte. Ich habe natürlich viel von anderen, vor allem von der Familie, über diese Zeit und meinen Vater gehört, aber es ist kaum für mich von dem zu unterscheiden, was meiner eigenen Erinnerung entspricht. 

„Ich konnte auf den Vater stolz sein“

Wie wächst man eigentlich auf mit einem Vater, den man selbst nicht wirklich kannte, der aber in Deinem Leben als Kind, Jugendlicher und Erwachsener massiv präsent war, weil er gewagt hatte, was sich nur wenige vorstellen, geschweige denn trauen würden?

Das ist in der Tat für mich eine große Diskrepanz. Die ersten Bilder und Fotos von meinem Vater waren Bilder aus der Zeit des Widerstandes, vor allem das Bild, das ihn vor dem Volksgerichtshof zeigt. Nicht unbedingt das, was man einem Jugendlichen wünscht. Geholfen hat mir etwas, dass es damals viele junge Menschen gab, die ihren Vater im Krieg verloren hatten. Für mich war es besonders hilfreich, dass ich sehr stolz auf meinen Vater sein konnte. Da hatten andere in meinem Alter damals ganz andere Probleme. Dieses Gefühl des Stolzes auf den Vater glich vieles aus. Meinen beiden Schwestern ging es ähnlich. In den folgenden Jahren versuchte ich die anfängliche Lücke, die bei mir im Gegensatz zu meinen viel älteren Schwestern bestand, zu schließen.

Meine Mutter hat über die damalige Zeit und das Wirken unseres Vaters im Widerstand relativ wenig erzählt. Es waren für sie sehr, sehr schwere Jahre. Wohl auch eine Art Selbstschutz. Mir halfen Fotos von meinen Eltern als sie jung verheiratet waren und in denen auch mein Vater relativ leger aussah, mit kleinem Bart und Knickerbockern. Viel habe ich von meinen beiden Schwestern, die unseren Vater noch unmittelbar erlebt hatten, erfahren. Dazu kamen auch einige Fotos aus dieser Zeit mit der ganzen Familie. Aber solche Fotos waren damals relativ spärlich.

Später suchte ich nach allem, was ich über meinen Vater finden konnte.
Das waren vor allem die ersten Bücher über den Widerstand, über Stauffenberg, Goerdeler und viele andere. Ein sehr persönliches Bild haben mir die Briefe meines Vaters an meine Mutter aus den ersten Jahren ihrer Bekanntschaft vermittelt. Erst sehr spät bin ich auf einen Brief unseres Vaters gestoßen, den er in den dreißiger Jahren geschrieben hatte, aus dem ich sehr viel über sein persönliches und politisches Denken erfahren konnte. Dadurch konnte ich meinen Vater besser verstehen, aber auch mich selbst.

Tim Pröse, der Autor des Buches „Wir Kinder des 20. Juli“, das in diesen Tagen erschien, schreibt, dass Du, Anton, am ehesten von allen dort Porträtierten Deinem Vater gleichst. Du bist, wie er, mit Leib und Seele Jurist, dazu ein durch und durch politischer Mensch, ein feingeistiger Intellektueller zudem. Was ist das andere, oder das Mehr, das Dein Vater auch hatte?

Wir waren beide sehr früh an Fragen der Geschichte und Politik interessiert. Mein Vater hatte allerdings sehr früh klare Vorstellungen über seinen Lebensweg. Bei ihm war das schon während der Studienzeit so, in der er bereits erste Kontakte zu Politikern knüpfte. Das war bei mir nicht so. Ich las viel über Geschichte und die damalige aktuelle Politik, aber bei mir waren zunächst doch noch stärker Fragen der Theologie und der Reformbemühungen der katholischen Kirche in den 60er Jahren. Und deswegen wurde ich zunächst auch Geistlicher.   

Mein Vater wollte schon sehr früh in die Politik. Schon während der Studienzeit hat er sich mit vielen politischen Fragen beschäftigt. In einem Brief an meine Mutter äußerte er sich enttäuscht über einen Besuch beim früheren Reichskanzler Marx, weil er dort keine großen Linien als Antworten für die politischen Herausforderungen fand. Der Sohn von Marx war Mitglied seiner Studentenverbindung. Er monierte auch generell, dass die bürgerlichen Politiker kein ausgeprägtes Verhältnis zu Fragen der Ausübung vor Macht hätten. Hier liege der eigentliche Kern- und Angelpunkt der Politik. Dies entsprach auch seinem Naturell, einer gewissen zupackenden Robustheit und einem ausgeprägten Machtbewusstsein.

Bei mir wuchs praktisches politisches Interesse erst später, als ich Jura studiert habe und dann im Bundesarbeitsministerium und im Kanzleramt arbeitete. Auch in ausgesprochen politischen Bereichen. Dabei haben mir mit Sicherheit auch meine früheren Studien in Sachen Politik sehr geholfen.

„…wenn die Stürme der Zeit vorbei sind“

Haltung und Handlungen Deines Vaters waren seinem engsten familiären Umfeld bekannt. Das damit verbundene Risiko für sich und seine Lieben auch. Das muss doch zu Spannungen und Konflikten geführt haben. Wie schaute Deine Mutter, Dein Onkel zum Beispiel darauf. Wie gingen sie damit um? In der Zeit des Widerstandes und in der Nachkriegszeit. Haben sich da Blickwinkel verschoben?

Meinem Vater war durchaus bewusst, dass sein Tun, besonders in der Phase des aktiven Widerstandes ab 1941, für seine Frau und seine Familie ein großes Risiko bedeutete. Das war für ihn ein großes Problem, worüber er häufig mit seinem Bruder Otto gesprochen hat. Er rang lange mit sich selbst und gelangte schließlich in mehreren Etappen in den aktiven Widerstand. Man muss sich das wohl wie einen längeren Prozess vorstellen. Am Ende stand: Ich kann nicht anders. In einem Abschiedsbrief an unsere Mutter hatte er geschrieben, vielleicht könnt ihr mich irgendwann besser verstehen, wenn die Stürme dieser Zeit einmal vorbei sind.

Aktiver Widerstand war für ihn eine sehr persönliche Angelegenheit. Er bezog daher weder seine Familie noch seine guten Freunde in seine Aktivitäten mit ein. Für unsere Familie war das ein Glück, weil seine Brüder und seine guten Freunde, die überlebt hatten, uns nach dem Krieg sehr geholfen haben.

Dein Vater ging früh in den Widerstand. Noch vor der Machtübernahme der Nazis. Schon 1932 trat er als wortmächtiger Wahlkämpfer für das Zentrum gegen die NSDAP auf. Was trieb ihn im Innersten um und an?

Mein Vater war sehr früh ein Gegner von Hitler und seinen Helfershelfer. Vor den entscheidenden Wahlen 1932 hat er als junger Politiker des Zentrums Wahlkampf gegen die Nazis gemacht. Es gibt einen Zeitungsbericht über einen Wahlkampfauftritt in seiner Heimatstadt Warburg. In dieser Rede warnte er eindringlich vor der nationalsozialistischen Bewegung. In diesem Artikel wird noch einiges von der Dramatik der damaligen Zeit deutlich. Als Hitler 1933 zum Reichskanzler berufen wurde, erklärte mein Vater Freunden gegenüber, er werde ein erbitterter Gegner Hitlers sein. Diese Überzeugung führte ihn schließlich auch in den aktiven Widerstand gegen das Nazi-Regime. Eine entscheidende Motivation dafür war für ihn die Pervertierung des Rechts unter den Nazis. Ein mit meinem Vater befreundeter Anwalt schrieb nach dem Krieg, die unvorstellbaren Verbrechen der Nazis seien für ihn das Böse schlechthin gewesen. Ein wesentliches Ziel seiner Beteiligung am Widerstand war die Wiederherstellung der Herrschaft des Rechts. In einem Kabinett Goerdeler war er als künftiger Justizminister vorgesehen. In vielen geheimen Denkschriften hatte er dafür bereits Konzepte entwickelt.

„Kontakt zu anderen Gruppen“

Der Widerstand gegen Hitler wird häufig auf seinen militärischen Anteil, auf den 20. Juli verengt. Dabei gab es ihn in verschiedenen politischen, gesellschaftlichen und konfessionellen Lagern. Dieser weitgehend vergessene Widerstand war von enormer Bedeutung. Dein Vater fungierte als Bindeglied, als Netzwerker, würde man heute sagen, zwischen den Widerständlern aus allen Lagern. Wie muss man sich das praktisch vorstellen?

Im Vordergrund stand recht lange der militärische Widerstand. Ohne ihn wäre ein Staatsstreich unmöglich gewesen. Aber dahinter gab es auch einen breiten zivilen Widerstand aus allen Schichten der Bevölkerung und Richtungen der damaligen demokratischen Parteien. Natürlich bei weitem zu wenig und nicht genug. Auch für Stauffenberg war die Zusammenarbeit mit dem zivilen Widerstand wesentlich. Vorrangig war die Bildung einer Einheitsfront der Opposition.

Mein Vater hatte schon früh Kontakte zu verschiedenen Widerstandskreisen. Dazu gehörten der so genannte Kölner Kreis, die Zentrale der Katholischen Arbeiter-Bewegung (KAB) in Köln, Vertreter verschiedener Gewerkschaften wie Jakob Kaiser und Wilhelm Leuschner. Dazu ein Widerstandskreis aus dem Rheinland und Westfalen, mit Namen wie Karl Arnold, der spätere erste Ministerpräsident von NRW, und Andreas Hermes, ein Mitbegründer der CDU. Eine entscheidende Phase begann, als unser Vater 1941 Carl Goerdeler und seinen eher konservativen Widerstandskreis kennenlernte. Daraus bildete sich mit der Zeit eine Widerstandsgruppe, die für größere Teile der Bevölkerung stand. Man traf sich an wechselnden Orten, oft auch bei uns daheim. Meiner ältesten Schwester wurde eingeschärft, darüber mit niemandem zu sprechen. An manche Teilnehmer, so auch an Stauffenberg, konnte sie sich noch lange erinnern.

„20.Juli – nicht nur Vergangenheit“

Ein Blick in die Welt zeigt: Demokratie ist und bleibt keine Selbstverständlichkeit. Sie ist dauergefährdet! Geschichte wiederholt sich bekanntlich nicht, aber welche Alarmzeichen sind für Dich besonders unübersehbar besorgniserregend und gefährlich? Was ist das Vermächtnis des Widerstandes für unsere heutige Zeit?

Es ist richtig, Demokratie ist die beste Regierungsform. Aber sie kann auch immer wieder gefährdet sein. Wir sehen dies leicht bei einem Blick auf die heutige Weltkarte. Demokratie braucht daher auch Demokraten, braucht Menschen, die sie aus Überzeugung leben. Die Demokraten müssen stets wachsam sein. Leider gibt es heutzutage Tendenzen, die zu großer Besorgnis Anlass geben. Auch in unserem Land. Dafür gibt es verschiedene Alarmzeichen, so die Verwendung von Naziparolen und die Relativierung der Naziverbrechen sowie Angriffe auf jüdische Mitbürger und Institutionen.

Der 20. Juli 1944 ist daher nicht nur ein Datum der Vergangenheit. Sein Vermächtnis hat Bedeutung auch für unsere Zeit. Auch heute müssen wir bereit sein, für den Erhalt unserer Demokratie und der sie tragenden Werte aktiv einzustehen und notfalls auch für sie zu kämpfen. Die, die damals im Widerstand gestorben sind, haben den Stab an uns weitergereicht, schon vor vielen Jahren. Wir stehen heute in der Verantwortung.

           

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