David gegen Goliath – eine unendliche Geschichte?
Von Gisbert Kuhn

Es ist, zugegeben, in diesen Tagen nicht immer ganz einfach, völlig uneingeschränkt an der Seite Israels zu stehen. Natürlich bleibt sein Recht absolut unangetastet, mit aller Härte und Erbitterung sowie (fast) allen Mitteln den Kampf um seine Existenz zu führen. Es ist allein die Person von Premierminister Benjamin Netanjahu, dessen Politik selbst in den Stunden höchster Gefahr für den Judenstaat und seine Bürger dem Verdacht immer wieder Nahrung gibt, in erster Linie dem eigenen Machterhalt zu dienen. Nun ist Macht, für sich genommen, ja nichts Verwerfliches. Im Gegenteil. Entscheidend ist nur, mit wem und zu welchem Zweck sie eingesetzt wird. Und genau hier beginnen die Fragwürdigkeiten um Netanjahu und seine rechtsnationalistischen Koalitionspartner – wachsen aber auch ungute Gefühle hinsichtlich einer israelischen Gesellschaft, die (und deren geistige Ausrichtung) sich in den vergangenen Jahren immer mehr gewandelt hat vom liberalen, aufgeklärten Erbe der nach dem Krieg aus Europa (das heißt zuvorderst Deutschland) eingewanderten Juden zu den mehrheitlich stark konservativ bis religiös-orthodox und nationalistisch geprägten „Neubürgern“, die seit rund drei Jahrzehnten in großen Zahlen ins Land kamen und dieses mittlerweile in vielerlei Hinsicht majorisieren. Denn Netanjahu und seine teilweise ultra-radikalen Mitstreiter sind ja nicht vom Himmel gefallen; sie wurden gewählt bei demokratisch einwandfreien Wahlen.
Diese Vorbemerkung erscheint notwendig, um klarzumachen, dass eine sachlich-fachliche Kritik an Vorgängen in Israel wie auch an bestimmten Bereichen seiner Regierungspolitik natürlich erlaubt, normal und mitunter auch notwendig ist. Auch – und vielleicht sogar gerade – aus einem Land, das einerseits in ganz besonderer Weise mit Israel verbunden ist in der Folge der von ihm (andere sagen, „in seinem Namen“) an Juden begangenen, unfassbaren Verbrechen, aber durchaus auch aus Dankbarkeit dafür, dass vonseiten vieler Überlebender des Holocaust Vergebung gewährt wurde. Und dankbar zudem, dass – so schien es jedenfalls eine Reihe von Jahren lang – die nachgewachsenen Generationen auf beiden Seiten keine traumatisch bestimmten Vorbehalte mehr gegeneinander hegten. Das bedeutet freilich ebenfalls: Es ist richtig, dass Deutschland eine spezielle Verantwortung für die Existenzsicherung Israels hat und diese – wenigstens in der überwiegenden Mehrheit seiner Bürger – so empfindet. Schließlich, wenn vielleicht auch ein wenig überspitzt formuliert, gäbe es ohne Deutschland heute den Staat Israel wahrscheinlich gar nicht. Will sagen, ohne die mit Orten wie Auschwitz, Treblinka, Oranienburg, Bergen-Belsen und anderen mehr verbundenen grausigen nationalsozialistischen Mordtaten, ohne die hirnlose Vertreibung geistiger Eliten aus Deutschland und ohne den folgenden Exodus in den durch Uno-Beschluss geschaffenen eigenen Staat wäre möglicherweise der Traum von Theodor Herzl bis heute nur ein Traum geblieben.
Und das aktuelle Geschehen? Wieder einmal brennt es in Nahost. Und wieder einmal gefällt sich die schein-moralische Weltmeinung darin, Opfer und Täter zu verwechseln. Der vor inzwischen exakt einem Jahr durch die Hamas aus dem Gaza-Streifen heraus begangenen unfassbaren Gräueltaten an mehr als 1200 israelischen Zivilisten plus der Verschleppung von hunderten Geiseln ausgelöste erneute militärische Zusammenprall zwischen der israelischen Armee und arabischen Guerilla-Kämpfern hat sich längst ausgeweitet und die Welt (besser vielleicht: Teile von ihr) fürchten, dass daraus schnell ein Flächenbrand werden könnte. Natürlich weiß die ganze Welt, dass die von den iranischen Schiiten-Mullahs in Teheran – finanzierten und gesteuerten Terror-Organisationen Hamas und Hisbollah sowie die Huthis im Jemen dafür verantwortlich sind. Und die nun, vermutlich mit fassungslosem Entsetzen, erkennen müssen, dass (und vor allem wie sehr) der kleine David wieder einmal dem grobschlächtigen, vermeintlich gigantischen palästinensisch/schiitischen Goliath überlegen ist. Schlimmer noch für sie. Vor allem das exakte, fast klinisch feine Ausschalten nahezu der gesamten Hisbollah-Führung und die Zerstörung ihrer Kommunikations-Netze zeigt, dass die israelischen Geheimdienste ihre Späher bis in die Spitzen ihrer Feinde in Teheran und im Libanon platziert haben. Diese Erkenntnis muss psychologisch weit mehr zermürben als es Bomben und Granaten tun.
Freilich, das weltweite Echo lässt erkennen, dass Israel politisch zunehmend in die Defensive gedrängt fühlt. In den von arabischen Migranten dominierten Viertel der deutschen Großstädte ohnehin. Berlin steht da ganz weit vorne. Noch sind die grausigen Jubelstürme etwa in Berlin-Kreuzberg beim Hamas-Massaker vor einem Jahr gut im Gedächtnis, da ertönen bereits neue Freudenausbrüche beim Abschuss hunderter iranischer Raketen in Richtung israelischer Wohngebiete. Und diese Demonstrationen und Inszenierungen von Hass verfangen in Deutschland. Jüdische Schüler werden gemobbt – folgenlos. Studenten in Universitäten werden bedroht – folgenlos. Informationsveranstalten zum Geschehen in Nahost und zu dessen Ursachen gewaltsam gesprengt – praktisch folgenlos. Natürlich „reagiert“ die Politik in der Regel „mit Abscheu und Empörung“. Meistens wird auch „die ganze Härte des Rechtsstaats“ angekündigt. Leider besteht diese dann häufig genug in der gerichtlichen Wertung, dass die Meinungsfreiheit ein noch höheres Gut sei als die Verbreitung von Hass und Hetze. Noch einmal deshalb und vielleicht zum Auswendiglernen: Das geschieht in dem Land, dessen 1933 frei gewählte nationalsozialistische Führung in ihrem Rassenwahn mehr als sechs Millionen Juden und hunderttausend anderer Minderheiten auf unvorstellbar grausame Weise ermorden ließ. Seitdem sind 80 Jahre vergangen. Alles schon vergessen? Auf jeden Fall scheint mittlerweile bei vielen im Land die Scheu verschwunden, bei Wahlen wieder politische Kräfte zu wählen, deren Führungen längst völlig unverhüllt Töne, Formulierungen und politische Ziele formulieren, die denen vom „damals“ sehr ähnlich sind.
Zurück zum Kampf des kleinen David gegen den großen Goliath. Der bisherige Verlauf der Kämpfe im Nahen Osten zeigt natürlich, dass Israel seinen Feinden technisch noch immer weit überlegen ist. Vor allem hinsichtlich der Präzision seiner Waffen aber auch bei der sogenannten Cyber-Kriegsführung. Und zwar keineswegs nur aufgrund massiver amerikanischer Unterstützung. Davids heutige Schleuder trifft Goliath weitaus härter als jene ur-biblische aus dem Alten Testament. Das erscheint allerdings auch dringend nötig angesichts einer außerordentlich „wankelmütigen“ Weltmeinung, in der nationale „Interessen“ in aller Regeln bestimmender sind als Wahrheit und wirkliche Moral. Man muss sich eigentlich immer vor Augen halten, dass dieser angeblich so riesige, vor Kraft und Macht strotzende „Koloss Israel“ mal eben ungefähr die geografische Größe des deutschen Bundeslandes Hessen (!) besitzt. Umgeben von so „Winzlingen“ wie Libanon, Syrien, Irak, Saudi-Arabien und Ägypten mit zusammen vielen hundert Millionen Menschen. Gewiss, in bei Weitem nicht allen dieser Länder sympathisieren die Regierungen mit den so genannten Palästinensern (es hat ja nie einen palästinensischen Staat gegeben) und schon gar nicht mit deren Terror-Organisationen. Doch in den Bevölkerungen genießen gerade diese nicht selten geradezu Heldenstatus.
Die menschliche Geschichte dauert bekanntlich nicht bloß ein paar Jahre, endet also nicht mit einem Menschenleben. Sie vollzieht sich über viele Generationen, von deren gutem Willen und ihrer Fähigkeit zum friedlichen Zusammenleben und zur grenzübergreifenden Kooperation Wohl oder Wehe des Verlaufs abhängt. Diese simple Einsicht macht vor dem Nahen Osten nicht halt. Und das heißt, es wird einmal zu einem Ausgleich zwischen Israel und seinen Nachbar kommen müssen. Ansonsten wird die Region eines Tages regelrecht explodieren. Und sei es, weil sie, noch viel stärker als ohnehin schon, immer mehr zum Experimentierfeld ganz anderer Mächte werden wird. Das, wiederum, führt fast zwangsläufig zurück zur Figur Benjamin Netanjahu. Israel und seine Streitkräfte mögen (und sollen natürlich auch) die aktuellen Attacken auf das Land siegreich überstehen. Doch auf Dauer führt kein Weg daran vorbei, wirklich einen Ausgleich mit einem schließlich friedvollen Miteinander anzustreben. Am Besten aus einer Position der Stärke heraus, aber mit dem erkennbaren Willen zum Frieden. Die Frage allerdings steht unbeantwortet im Raum, inwieweit die immer mehr auf konservativen Nationalismus setzende Gesellschaft dabei folgt und, zum Beispiel, endlich die unselige – oftmals von abscheulichem Überlegenheitsgehabe begleitete – Siedlungspolitik im Westjordanland beendet.
Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel..
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