Von Gisbert Kuhn

Autor Gisbert Kuhn

Es gebe, sagte Nordrhein-Westfalens christdemokratischer Innenminister Herbert Reul unlängst in einem Interview, in Deutschland kein Bewusstsein für Katastrophen. Offen blieb, ob das ein Vorwurf oder nur eine allgemeine Feststellung war. Was er indessen gemeint haben könnte, dürfte wohl ungefähr dies sein: Unsere Gesellschaft reagiert jedesmal wieder tief erschrocken, ja geradezu panisch, wenn etwas Unerwartetes oder gar Unvorherzusehendes geschieht. Also etwas Schlimmes, so wie vor Jahren mit den Hochwassern an der Oder, in Sachsen oder gerade jetzt besonders dramatisch im Wein-idyllischen Ahrtal, an der Erft und in Westfalen.

Wie konnte das in diesem Ausmaß geschehen, schallt es so auch jetzt wieder – nahezu gewohnheitsmäßig – anklagend von Flensburg bis Konstanz und Aachen bis Cottbus durch das Land. Warum wurden nicht schon längst wirksame Vorkehrungen gegen ein solches Verhängnis getroffen, mit dem man doch immer habe rechnen müssen? Nicht anders, übrigens, hatte es geklungen, als sich nach dem Ausbruch der Corona-Seuche herausstellte, dass bei weitem nicht genügend Gesichtsmasken zur Verfügung standen. „Skandal“, schrien seinerzeit die Schlagzeilen aus den Medien. Und wortgewaltige Kommentatoren nagelten (natürlich) zuvorderst „die Politiker“ wegen deren „Versagen“ an die öffentliche Klagemauer, nicht rechtzeitig und ausreichend Vorsorge getragen zu haben.

Und sie konnten deren „Schlafmützigkeit“ sogar schwarz auf weiß belegen. Denn, so wiesen die fleißigen Leitartikler nach, vor fast zehn Jahren – nämlich 2012 – hatte das damalige Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) in einer umfangreichen Studie für die Bundesregierung belegt, in welch jammervollen Zustand diese wichtige Hilfsorganisation mittlerweile heruntergespart worden war. Natürlich durch politische Entscheidungen, aber auch begleitet vom Beifall der Öffentlichkeit. Die Gründe dafür lagen ja auf der Hand. Ende der 80-er und zu Beginn der 90-er Jahre des vorigen Jahrhunderts war der Kommunismus zusammengebrochen, Deutschland bekam die nationale Vereinigung geschenkt, kein Ost-West-Gegensatz und Kalter Krieg mehr. Wir waren, so jubelte man, „nur noch von Freunden umgeben“. Es galt, endlich abzurüsten, die allgemeine Wehrpflicht (damit freilich auch den sogensreichen Zivildienst) abzuschaffen und die „Friedensdividende“ einzustreichen.

Das war und ist, fraglos, alles richtig. Aber genauso richtig ist, dass in dieser allgemeinen Euphorie auch so manches Kind mit dem Bade ausgeschüttet wurde. Ganz gewiss brauchte man die mehr als 100, für etwaige Kriegszeiten in Nebenräumen von Tunneln oder U-Bahn-Schächten vorgehaltenen, Notkliniken mit Klappbetten, Verbandsmaterial, Medikamenten usw. nicht mehr in dieser Zahl. Aber die Folgen der total unüberlegten Räumungsaktionen wurden spätestens im Zuge von Corona sichtbar – es fehlte hinten und vorn, zum Beispiel an OP- und anderen Gesichtsmasken. Die waren im Zuge der „Aktion Friedensdividende“ in die seinerzeitigen Kriegsregionen auf dem Balkan, nach Kuba und auch nach Afrika verschenkt worden.

Diese Vorgänge und die daraus natürlich unweigerlich entstehenden Konsequenzen istete nun das erwähnte Bundesamt in seiner Bestandsaufnahme an die Bundesregierung schnörkellos auf. Und nicht nur das. Die Studie enthielt auch – zwar nur theoretisch angenommene, aber durchaus denkbare – Szenarien von schweren Unfällen bis hin zu Naturkatastrophen. Es wurde damals eine Pressekonferenz in Berlin anberaumt, die Autoren gaben das Ergebnis ihrer Arbeit an den zuständigen Bundesinnenminister, dieser bedankte sich, und ein paar schreibende und sprechende Kommentatoren sparten nicht an Häme und Kritik. Tenor: Wie könne bloß jemand auf derart ausgefallene Ideen kommen und im Zeitalter der Friedensdividende Vorsorge für Krisen verlangen. Immerhin verschwand das umfangreiche Elaborat anschließend nicht einfach in den regierungsamtlichen Archiven, sondern es wurde – für jedermann zugänglich – ins Internet gestellt. Wo es dann freilich unbeachtet blieb!

Darüber könnte der mit einigermaßen gutem Gedächtnis ausgestattete Beobachter und Zeitzeuge ja vielleicht noch achselzuckend hinweggehen, wenn nicht ausgerechnet eine ganze Reihe der damaligen Kritiker im Zusammenhang mit der auf einmal zutage tretenden Masken- und auch Krankenbetten-Knappheit wieder mit „kritischem“ Geist in die Tasten gegriffen hätte. Tenor dieses MaL: Seit nahezu zehn Jahren habe die Regierung doch um die Gefahr von Naturkatastrophen wissen müssen. Und was sei geschehen? Nichts! Der Vorwurf ist nicht unberechtigt. Andererseits – verfügt jemand über genügend Phantasie, um sich vorzustellen, was mit dem Politiker oder Publizisten geschehen wäre, der vor dem Hintergrund der BBK-Studie seinerzeit die Forderung erhoben hätte, die Staat habe selbst in „normalen“ Zeiten die Pflicht, für seine Bürger Schutzvorkehrungen zu treffen? So, wie es die Feuerwehr ja auch dann gibt, wenn es nicht brennt. Der wäre, jede Wette, gesteinigt worden.

Der Grund dafür liegt auf der Hand. Herbert Reul, der NRW-Innenminister, hat ihn (wie oben erwähnt) ja genannt: Es gibt in unserer Gesellschaft kein „Katastrophen-Bewusstsein“. Ja, man braucht gar nicht so hoch zu greifen. Schon die Vorstellung, es könne möglicherweise zu einer krisenhaften Entwicklung kommen, ist in unserem rechtlich und organisatorisch praktisch lückenlos durchgetackteten Vollkasko-Versicherungs-Land nur schwer zu vermitteln. In einer der ungezählten TV-Talkshows sorgte jüngst ein – mittlerweile auf die Kabarettbühne gewechselter – ehemaliger Deutschlehrer bei der Runde für (wenn auch nur kurzzeitige) Sprachlosigkeit, als er die allgemeine Klage über die (wegen Corona) angeblich „verlorene Generation“ mit einer interessanten These unterbrach: Er könne, sagte er, dieses Jammern und vor allem diesen Begriff allmählich nicht mehr hören. Warum komme eigentlich niemand auf den Gedanken, den jungen Leuten Mut zu machen, indem man ihnen sage: Hei, Ihr habt die Chance, besonders stark zu werden. Denn Ihr seid seit Langem die erste Generation im Land, die mit einer wirklichen Krise zurechtkommen musste… Danach herrschte in der Talk-Runde erstmal Schnappatmung.

Aber spiegeln Schilderungen wie diese die tatsächliche Realität im Lande wider? Ist das, was Politik und Medien uns als Stimmung zu vermitteln versuchen, vielleicht gar nicht das volle Abbild der gesellschaftlichen Wirklichkeit? Als in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli über dem Ahrtal und den anderen Überschwemmungs-Regionen die Apokalypse hereinbrach, folgten doch schier beispiellose Akte von Solidarität, menschlicher Zuwendung, Hilfen in Form von körperlicher Arbeit und finanziellen Spenden. Spontan, von wildfremden Personen, aus der ganzen Republik, sogar von jenseits der Grenzen. Wer sagt denn, dass sich nicht genau darin bei den Menschen das wahre Katastrophenbewusstsein manifestiert? Nämlich dann, wenn Gefahren nicht bloß theoretisch sind, sondern sprichwörtlich tatsächlich Not am Mann ist.    

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