Das SPD-Gedächtnis und seine Kellermeister
In den „Verliesen“ der Friedrich-Ebert-Stiftung lagert die sozialdemokratische Geschichte
Von Gisbert Kuhn
Je länger jemand oder etwas existiert, desto weiter zurück reicht das Gedächtnis. Das gilt für das menschliche Leben genau wie für jeden anderen Bereich. Zum Beispiel für die SPD, die mit 150 Jahren weitaus älteste Partei Deutschlands. Sie hat damit, logischerweise, ein ganz langes Gedächtnis. Das, allerdings, liegt im Keller. Es ist, über mehrere Stockwerke geschichtet und geordnet, im Untergrund eines umfangreichen Gebäudekomplexes an der der Godesberger Allee 149 in der alten Bundeshauptstadt Bonn. Genauer: Das Gedächtnis und die Geschichte der Partei befinden sich – wohlbehütet und mit Stolz gepflegt – in Verwahrung der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES). Oder, um ganz exakt zu sein, im dortigen „Archiv der sozialen Demokratie“.
Archive, das ist zumindest in der „analogen“ Vergangenheit so gewesen, enthalten vor allem Akten. Also Papier. Eben deswegen kann man in aller Regel selbst mit verbundenen Augen bestimmen, ob und dass man sich in einem Archiv, nicht selten auch in einer Bibliothek befindet. In den Untergeschossräumen an der Godesberger Allee ist das nicht anders. Von den „Schatzkästlein“, also den wegen ihrer kostbaren Raritäten besonders geschützten und zumeist sogar klimatisierten Örtlichkeiten abgesehen, liegt über den endlos erscheinenden, sich insgesamt über mehr als 50 laufende Kilometer mit prall gefüllten Ordnern erstreckenden Regalreihen dieser typische Geruch. War es schließlich in der langen Geschichte der SPD für die Genossen nicht immer wichtig, „Stallgeruch“ zu haben? Der interessierte Besucher stört sich ganz gewiss nicht an dem leicht muffigen Ambiente. Zeugnisse von 150 Jahren Geschichte – kämpferischer, heroischer, fehl geleiteter, nicht selten blutvoller Historie -, das ist mehr als nur Papier oder die eine und andere zerschlissene Fahne! Hier liegen die Irrungen und Wirrungen, Leiden und Leistungen eines Volkes verwahrt. Zumindest haben sie Deutschland entscheidend mit geprägt.
Liebesschwüre und Agitation
Wenn Harry Scholz Besucher durch die Sammlungen führt, sind ihm Stolz und Freude darüber anzumerken, mit seiner Arbeit des Bewahrens, Aufarbeitens und Forschens ein Stück weit Teil dieser Geschichte zu sein. Der Mann aus dem Westerwald mit schlesischen Wurzeln ist Leiter des Referats Personenbestände und Sammlungen im Bonner „Archiv der sozialen Demokratie“ (AdsD). Immer wieder überschlägt sich schier seine Stimme beim Erzählen und Erklären. Immer wieder auch greift er aus dem scheinbar endlosen Sammelsurium zielgerichtet nach einer eine Akte, um einen historischen Solitär hervorzuzaubern. Etwa einen Brief den die im Januar 1919 zusammen mit Karl Liebknecht in Berlin ermordete Linkssozialistin Rosa Luxemburg 1917 an ihren damaligen Geliebten und Genossen Paul Levi geschrieben hatte. Verblüffend darin ist nicht nur der nahtlose stilistische Übergang von glühenden Liebesbekenntnissen zu kühlen ideologischen und politstrategischen Überlegungen und Anweisungen. Auffallend ist auch die Schriftart der späteren Mitbegründerin der KPD. Im Gegensatz zu der seinerzeit in Deutschland üblichen „Sütterlin“ benutzte Rosa Luxemburg die moderne Antiqua. Grund: Sie hatte das Schreiben in ihrer Jugend in Polen gelernt.
Es ist ein Gang durch Geschichte und Geschicke. So schicksalhaft der Verlauf der Sozialdemokratie war, so kurvenreich folgte auch das Archiv als gesammeltes Gedächtnis dem Geschehen. Zur Zeit der sozialdemokratischen Verfolgung durch Bismarcks Sozialistengesetzgebung (1878 – 1890) musste das Parteiarchiv 1888 nach London „emigrieren“, wo es allerdings um den wertvollen Marx/Engels-Nachlass angereichert wurde. Später, nach Berlin zurückgekehrt, wuchs es vor und nach dem 1. Weltkrieg zu einer international hoch angesehenen Forschungsstäte heran, die – wie Harry Scholz es ausdrückt – in den 20-er Jahren ihre „Blütezeit“ erlebte. Nach der Machtergreifung durch die Nazis gelang es unter erheblichen Anstrengungen, zumindest die wertvollsten Teile der Sammlung ins westeuropäische Ausland zu verlagern. Allerdings musste der Vorstand der Exil-SPD das Archiv 1938 an das Internationale Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam verkaufen. Die Genossen brauchten ganz einfach das Geld zur Finanzierung ihres Untergrund-Kampfes gegen das Hitler-Regime. Auch hier kann Scholz mit Exponaten aufwarten. Etwa mit einer jener so genannten Tarnschriften, wie sie damals im Reichsgebiet kursierten – z. B. Büchlein mit dem Titel „Pflegen Sie Ihr Haar“, in denen nach unverfänglichen ersten Seiten agitatorische Schriften erschienen.
Das Archiv bleibt in Bonn
Nach dem Regierungsumzug 1999 von Bonn nach Berlin verlagerten auch die bis dahin in oder bei Bonn ansässigen politischen Stiftungen ihre Leitungszentralen an die Spree. Anders als jedoch etwa bei der Konrad-Adenauer- (CDU) und der Heinrich-Böll-Stiftung (Die Grünen) hat die SPD ihr Archiv am Rhein belassen. Mehr noch, gegenwärtig wird sogar noch zusätzlicher Raum für weitere Sammlungen geschaffen. An öffentlichem Interesse scheint es tatsächlich auch nicht zu mangeln. Wobei – so die Beobachtung von Harry Scholz – ein interessantes Zusammenspiel zum Beispiel zwischen bestimmten Fernsehsendungen und dem Anstieg von Anfragen bei der Stiftung existiert. So etwa unlängst im Zusammenhang mit der TV-Serie „Babylon Berlin“, die das Leben in der Reichshauptstadt zwischen dem Weltkriegs-1-Ende und der Machtergreifung Hitlers 1933 spielfilmartig dokumentierte. Ganze Gymnasialklassen rückten danach den archivarischen Kellermeistern in der Godesberger Allee auf den Pelz, um das zuvor gesehene filmische Erlebnis nun möglichst dokumentarisch-genau untermauert zu bekommen.
Wo sollte der Besucher anfangen, wo aufhören? Das hängt ganz einfach vom jeweiligen Interessensgebiet oder der persönlichen Neugier ab. Wer vorzugsweise optischen Eindrücken zuneigt, würde vielleicht seinen Schwerpunkt bei der Fülle von Plakaten und Flugschriften setzen. Doch auch hier wäre eine inhaltliche Vorauswahl angebracht. Denn 70 000 – praktisch die gesamte 150-jährige Parteigeschichte umfassende – Plakate und nahezu 50 000 Flugblätter würden ohne Zweifel selbst den aufnahmebereitesten Interessierten hoffnungslos überfordern. Oder die Sammlung der rund 800 historischen, nicht selten zerfransten Fahnen! Deren Spektrum beginnt nicht „erst“ mit der Breslauer SPD-Traditionsfahne von 1873, sondern enthält sogar eine der ganz wenig verbliebenen Flaggen, die bei der machtvollen Demonstration 1832 beim Hambacher Schloss in der Pfalz den Wunsch der Menschen nach Demokratie und Freiheit verstärkten.
Oder da ist die „Blutfahne“ mit einer im Sinne des Wortes geradezu sagenhaften Geschichte. Es ist eine große rote Fahne. Auf der Vorderseite ein Eichenkranz mit Schleife, ein ineinander erschlungenes Händepaar und die eingestickte Inschrift: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Einigkeit macht stark, 23. Mai 1863. Ferdinand Lassalle“. Tatsächlich stammt sie jedoch aus 1873, von einer Feier zum 10-jährigen Bestehen des von Lassalle gegründeten „Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein“. Bei den Straßenkämpfen während der Zeit von Bismarcks Sozialistengesetzen führten schlesische Arbeiter das Banner mit sich. Freilich ist unsicher, ob die dunklen Flecken auf dem Stoff wirklich Blut sind. Denn es könnte sich auch um Maschinenöl handeln. Um die damals schon 60-Jahre alte Traditionsfahne vor dem Zugriff der Nazis zu schützen, vergruben Breslauer Sozialdemokraten sie in einer Wachstuch-Hülle in einem Schrebegarten. Nach dem Krieg übernahm der Installateur Karl Simon das wertvolle Stück Stoff und verteckte es erneut in der Erde, um es vor Russen und Polen zu verbergen. Trotzdem erschien eines Tages ein russischer Offizier und verlangte, die Lassalle-Fahne zu sehen. Simon handelte (dem Vernehmen nach) dem Russen das Versprechen ab, dass er mit nicht mehr als drei Mann kommen und die Fahne zudem bei ihm (Simon) bleiben dürfe. Bei dieser Gelegenheit geschah das völlig Unerwartete: Die Russen salutierten mit erhobener Faust, der Offizier übersetzte feierlich die Inschrift, Salutschüsse und Wegtreten. So jedenfalls geht die Geschichte…
Persönlichkeiten der Geschichte
Nicht zu vergessen die Fülle an Dokumenten aus den Nachlässen bedeutender Persönlichkeiten, die mittlerweile vom „Archiv der sozialen Demokratie“ gesichtet und verwaltet werden. Allein die mit dem Namen Willy Brandt verbundenen Hinterlassenschaften umfassen etwa 400 laufende Meter Akten; das ist damit einer der größten Nachlässe eines deutschen Nachkriegspolitikers. Darunter das Lübecker Abiturzeugnis von Herbert Frahm (Brandts Originalname) und die Urkunde der Auszeichnung mit dem Friedensnobelpreis. Oder da ist die Sache mit „Onkel Herberts Aktentasche“. Gemeint ist die des einstigen „Zuchtmeisters“ der SPD-Bundestagsfraktion.Tatsächlich hat kaum mal jemand Wehner ohne Aktentasche gesehen. Freilich: „Die“ Tasche (also die einzige) hat es nie gegeben. Allein im Keller der Godesbeger Allee liegen 13 davon. In der „Abteilung Brandt“ finden sich, zusätzlich zur Fülle der anderen Exponate, auch noch eine umfangreiche Fotosammlung sowie Devotionalia, Orden und Gastgeschenke. Mit Helmut Schmidt ist es kaum anders. Kurz: Was dort (einschließlich der Totenmasken sämtlicher einstigen Partei-Oberen) in den Regalen gesammelt, gesichtet, geforscht und verwahrt wird, birgt wahre Schätze für geschichtlich Interessierte – gleichgültig ob für Profis oder ganz einfach Neugierige. Zumal das Archiv der Friedrich-Ebert-Stiftung sich ja auch keineswegs auf das Bonner Anwesen beschränkt. Denn auch das sehr gut besuchte (nicht zuletzt von Chinesen nahezu überlaufene) Karl-Marx-Haus in Trier gehört nämlich gleichfalls mit dazu.
Titelfoto: Harry Scholz mit dem Rücktrittsschreiben von Bundeskanzler Willy Brandt an Bundespräsident Gustav Heinemann am 6.Mai 1974
Info:
Friedrich-Ebert-Stiftung
Archiv der sozialen Demokratie
Godesberger Allee 149
53175 Bonn
Tel: 0228 8839046
Öffnungszeiten:
Mo. – Do. 9 – 17 h
Fr. 9 – 16 h
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