Von Gisbert Kuhn

Autor Gisbert Kuhn

Die Bilder von dem abgefackelten Flüchtlingslager von Moira auf der griechischen Insel Lesbos sind grausam. Nein, viel schlimmer, sie sind unmenschlich. Aber das waren sie auch schon vor dem Feuer. In Wahrheit, freilich, geht es nicht um die Bilder, sondern um die Menschen. Genauer, um die Tatsache, dass in einer sich doch eigentlich zivilisierten Welt nennenden Abertausende – nicht zuletzt auch Frauen und, vor allem, Kinder – zusammengepfercht unter unglaublich primitiven Umständen auf kleinstem Raum dahinvegetieren. Und dass die Welt nicht weiß, wie sie mit dem Elend umgehen soll. Nicht die in der Europäischen Union organisierten 27 („christlichen“) Länder, nicht die Vereinten Nationen, nicht die muslimischen „Bruder“-Staaten. Niemand.

 Es handelt sich, zynisch gesprochen, um menschliches Treibgut. Um das Randergebnis eines internationalen Politik-Geschehens, für das allein eine (am liebsten globale) militärische und wirtschaftliche Machtausweitung im Vordergrund steht. Nicht zu vergessen natürlich auch die mit religiösen Explosivstoffen aufgeladenen Treibsätze. Und irgendwann ist es für diese von der Restwelt am liebsten Vergessenen dann halt egal, wie sie krepieren – und sei es bei gewaltsamen Auseinandersetzungen. Es ist eine Schande! Doch diese Schande beginnt nicht mit den untragbaren Verhältnissen in Moira und ähnlichen Lagern. Sie beginnt in Afghanistan, wo religiöse Fanatiker versuchen, mit blutigem Terror und Unterdrückung die Menschen in ein mittelalterlich-archaisches Leben zurück zu zwingen.  Sie beginnt im Nahen Osten, wo vor 100 Jahren sinnlose, willkürlich und allein von Weltmachtstreben und Wirtschaftsinteressen geleitete Grenzziehungen der Sieger des Ersten Weltkriegs unter anderem Volksstämme trennten und damit ein friedliches Zusammenleben zerstörten oder gar nicht erst zuließen. Also dort, wo heute, wieder, bei tatkräftiger „äußerer“ Freundschafts-Mithilfe gnadenlos alles zerbombt und zerschossen wird, was humanes Leben normalerweise ausmacht. Und es beginnt auf dem „vergessenen“ Kontinent Afrika, wo ebenfalls Terror, dazu auch noch Dürre, Hunger und Durst die Menschen zwingen, aus der Heimat zu fliehen. Sie hoffen auf Rettung, ansonsten ist es Vielen egal, wie und woran sie sterben.

Wieder ist der Aufschrei groß

Und nun? In den Vorgängen in und um Moira ist mit einem Mal all dieses Elend wie unter einem Vergrößerungsglas sichtbar. Und – nicht überraschend – wieder sind das Entsetzen und der Aufschrei ringsum groß. Entsprechend hallt natürlich auch erneut der Protest von Flensburg bis Konstanz durch unser Land.  Keine Frage, die Bereitschaft zum Helfen ist erneut erkennbar groß. Schließlich: Gehört die Hilfe am Nächsten denn nicht zu den vordringlichsten christlichen Geboten? Oder eine menschlich-politische Solidarität mit den Verdammten dieser Erde? Oder, ganz einfach, müsste sie nicht geradezu Markenzeichen einer aufgeklärten humanistischen  Lebensphilosophie sein? 87 Prozent der Deutschen, verkündete jüngst der Norddeutsche Rundfunk (NDR) im „Morgenmagazin“, seien für eine Aufnahme der rund 13 000 Moira-Flüchtlinge in der Bundesrepublik. Doch Vorsicht. Immerhin hat die Erfahrung aus der Vergangenheit gelehrt, dass es sich empfiehlt, bei diesem Sender genau aufzupassen. Denn in Tat und Wahrheit haben (zweiter Blick!) 44 dieser genannten 87 Prozent – also etwas mehr als die Hälfte der Befragten – zur Bedingung ihrer Zustimmung eine „europäische Einigung“ bei diesem Problem gemacht.

Verquickung von Moral und Möglichkeit   

Schon das Ergebnis dieser NDR-Umfrage zeigt das Bild der deutschen Bevölkerung als das einer in dieser Frage praktisch gespaltenen Nation. Andere Erhebungen ergeben noch deutlich drastischere Aussagen. Das, wiederum, führt zu einem grundsätzlichen Dilemma, das dringend angegangen werden muss, soll am Ende nicht die Zerstörung des mit Abstand Besten stehen, das dieser über Jahrtausende von Kriegen, Verwüstungen und Vertreibungen gekennzeichnete Kontinent in seiner Geschichte je geschaffen hat – die Europäische Union. Schon die Art und Weise, in denen gerade einmal wieder Schuld und Verantwortungen „zugeteilt“ werden, lässt das Schlimmste befürchten. „Die EU“, so lautet das gängige Mantra aus Politik , in praktisch allen Medien und damit natürlich auch den diversesten Kreisen der Öffentlichkeit, habe versagt, sei unfähig zur Lösungs-Findung, habe im Übrigen von nichts eine Ahnung und überhaupt…

Wer indessen so redet, hat entweder selbst keine Ahnung oder handelt bewusst böswillig. Denn „die EU“ (also das so oft beschimpfte „Brüssel“) hat im Prinzip überhaupt keine Entscheidungsgewalt. Diese haben sich – im eigenen, wohlerwogenen Interesse – die Mitgliedländer mit ihren, von der Gunst ihrer jeweiligen Völker abhängigen, Regierungen vorbehalten. Deshalb war es also auch nicht „die EU“, welche die 2004 vollzogene Massenaufnahme von 10 sehr ungleichen neuen Mitgliedern betrieben und beschlossen hatte, sondern es waren – wiederum – die damaligen nationalen Unions-Partner. Nicht zu vergessen, übrigens, mit Deutschland an vorderster Stelle. Und, auch dies bitte nicht vergessen, zu den seinerzeit neuen Mitspielern im „gemeinsamen europäischen Haus“, zählten prominent jene, die sich von Anfang an jeglicher Beteiligung an einer gemeinsamen Lösung mit gerechter Verteilung anerkannter Asyl-Suchender verweigerten, und daran unverändert festhalten: Polen, Ungarn, Tschechische Republik, Slowakei.

Sie haben es gesagt

Die Bundesrepublik (und keineswegs nur die jetzige Regierung) trägt seit Jahren schon, fast gebetsmühlenartig, die Forderung nach einer „gemeinsamen Lösung“ des Flüchtlings- und Asylsuchenden-Problems ins Land und nach Brüssel. Kein Echo bisher! Der Ruf verhallt auch jetzt, wo die Berliner ein halbes Jahr lang den organisatorischen Vorsitz in der EU haben. Und man mag es als zynisch empfinden oder nicht – Tatsache ist eben, dass die Fotos und bewegten Bilder aus dem Elend von Moira ausschließlich hierzulande den erschrockenen Widerhall und in dessen Gefolge die stimmgewaltigen Forderungen ausgelöst haben nach – im Zweifel sogar erneuter – rein nationaler Aufnahme abertausender Migranten mit den entsprechenden Auswirkungen auf das innere (und zwar keineswegs nur soziale und finanzielle) Gefüge der Gesellschaft. Man kann gewiss den Polen, Ungarn oder Tschechen wegen ihrer Verweigerungshaltung zürnen. Eines allerdings kann man nicht – ihnen nämlich vorwerfen, die übrigen Partner hinters Licht geführt zu haben. Nein, sie haben ihre Haltung von allem Anfang an offengelegt.

Deutschland und die Deutschen stehen in dieser wichtigen Frage allein – 1 gegen (die einen mehr, die anderen etwas weniger) 26. Dabei steckt die Berliner Politik in derselben Klemme, wie es wesentliche Teile der Gesellschaft ebenfalls tun. Sie verquicken das wohltuende Gefühl, auf Seiten der Moral zu stehen, mit den realen Möglichkeiten des Handelns. Denn derer bedarf es in Wirklichkeit, ernst- und dauerhafte Lösungen mit nachhaltigen Verbesserungen der Lebensverhältnisse für die wirklich Armen dieser Erde herzustellen. Schnelle Hilfsmaßnahmen mit schönen TV-Bildern helfen nicht; sie produzieren allenfalls später abstoßende Märsche von grölenden Glatzköpfen und Springerstiefelträgern durch deutsche Städte oder gar ein sprunghaftes Anwachsen rechtsextremistisch-politischer Kräfte.

Diesen – am Ende wohl unauflösbaren – Gegensatz von Moral und Möglichkeit hatte vor 100 Jahren bereits der Soziologe und Nationalökonom Max Weber in den Begriffen Gesinnungs- und Verantwortungsethik Ausdruck veliehen. Von was sich Menschen – zumal Politiker – letztendlich leiten lassen, um Gutes zu tun oder Positives zu gestalten, sei (von seinem inneren Gehalt her) egal. Nicht gleichgültig seien allerdings – wenigstens in aller Regel – die Konsequenzen. Moralische Gesinnung, Eintreten und Demonstrieren für Menschenrechte, Appelle nach unkontrollierten Migrationszahlen usw. schaffen gewiss gute Gefühle und die Gewissheit, auf der richtigen, nämlich guten Seite zu stehen. Die  richtige Gesinnung gründet demnach auf der richtigen Ethik. Da mag es schwerfallen, gleichfalls „ethische“ Fundamente im Handeln derer auszumachen, die eine deutlich breiter gefächerte Verantwortung tragen müssen.

Arbeit, Wohnen, Schulen, Einordnen

Klar ist es leicht, den Zuzug neuer Menschenmassen nach Deutschland mit dem Satz zu begründen: „Ein so reiches Land wie das unsrige muss das können“. Aber es geht eben nicht nur um das Staatssäckel. Wer sorgt dafür, dass in angemessener Zeit ausreichend Wohnraum geschaffen wird, wo dieser doch jetzt schon zu knapp ist? Wer schafft die notwendigen Arbeitsplätze, und das auch noch in Zeiten einer Corona-Krise? Woher sollen die zusätzlichen Kita- und Schulplätze kommen? Wie will man die für ein friedliches, harmonisches und multikulturelles Zusammenleben unerlässliche Eingliederung in und Angliederung an die deutsche Mehrheitsgesellschaft sicherstellen, wo doch die Integration der 800 000 Migranten von 2015 bei Weitem noch nicht gelungen ist. Das ausschließlich gute Gewissen mag als eine Art „software“ im gesellschaftlichen Getriebe ausreichen, die sehr viel mühsamere und unerfreulichere „hardware“ der Entscheidungsträger aber hält es am Laufen.

Das mag ja Alles wenn schon nicht gut, so aber doch richtig sein, sagen nun die Einen – also die auf der „richtigen“ Seite. Aber damit sei doch den Menschen in Moira nicht geholfen. Und wenn „die EU“ (noch einmal: Es sind in Wahrheit die nationalen Regierungen) schon unfähig zu einer gemeinsamen Migrationspolitik sei, dann müsse Deutschland eben allein (aber natürlich für Andere richtungsgebend!) vorangehen. Ob den Apologeten dieser Art von Problemlösung wohl bewusst ist, wie sehr besonders in bestimmten europäischen Hauptstädten genau darauf gewartet wird? Weil damit natürlich wieder einmal der Beweis erbracht wäre, dass diese leidige Flüchtlingsproblematik eben keineswegs ein Problem der Gemeinschaft sei, sondern (Ungarns Victor Orban) „allein eines der Deutschen“. Das erinnert, ein wenig makaber, an den Witz von den zwei Infanteristen im Schützengraben, bei dem im heftigsten Kugelregen der eine den anderen auffordert „Spring Du, ich sichere“. Oder es erinnert an die Karikatur von dem Feldmarschall, der tapfer voran in die Schlacht reitet, während sich seine Truppen längst in die Büsche geschlagen haben.

Darüber könnte man ja schmunzeln, wenn die Wirklichkeit nicht so traurig wäre. Die Leidtragenden sind natürlich wieder einmal die (im Wortsinn) Ärmsten. Dabei ist es, angesichts des Elends, eigentlich auch nebensächlich, dass (oder ob) in dem Lager bewusst Feuer gelegt wurde und dass diverse (auch deutsche Politiker) und Nichtregierungs-Organisationen ganz offensichtlich manches seltsame Spielchen treiben. Die Bomben auf Damaskus, die Bürgerkriege in Afghanistan und Libyen, zerfallene Staaten wie Somalia, Dürre-Katastrophen in Zentralafrika usw., usw… Moira ist ganz gewiss nicht das Ende des Elends. Und auch nicht bei uns des Gerangels um Moral und Möglichkeit.

Zuschriften an gisbert.kuhn@rantlos.de

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