Von Gisbert Kuhn

Gisbert Kuhn

War das wirklich so überraschend, so völlig unerwartbar, was die so genannte Shell-Studie vor ein paar Tagen zutage förderte? Aufmacher bei den meisten Zeitungen, Top-Meldung in den Nachrichtensendungen von Radio und Fernsehen. Was war die „Sensation“? Die Jugendlichen in Deutschland (befragt wurden 12- bis 25-Jährige) seien in ihrer Gänze überhaupt nicht so pessimistisch, ängstlich und an Politik desinteressiert, wie ihnen im Allgemeinen unterstellt werde, sondern blickten in ihrer Mehrheit durchaus optimistisch in die Zukunft. Dass dieses positive Bild auch dunkle Flecken aufweist, versteht sich eigentlich von selbst – Angst vor Krieg zum Beispiel, oder vor den Gefahren der Klima-Erwärmung. Es käme einem Wunder gleich, wenn Heranwachsende deswegen nicht ebenso besorgt wären wie die Generationen vor ihnen. Weshalb aber verfiel die (veröffentlichende) Öffentlichkeit geradezu in Schnapp-Atmung als sich ihr die Majorität der befragten Jugendlichen trotzdem keineswegs als weinerliche Waschlappen präsentierte, sondern als realistische, pragmatische und auch wertorientierte Zeitgenossen.

Die Antwort darauf kann vielfältig ausfallen. Sie kann vielleicht vor allem darin liegen, dass sich das Weltbild der (sagen wir einmal) professionellen Beobachter des globalen Geschehens nicht unbedingt deckt mit dem der so häufig zitierten „Menschen draußen im Lande“. Wer sozusagen berufsbedingt praktisch auf allen politischen Ebenen täglich den (gewiss notwendigen) Auseinandersetzungen der Akteure ausgesetzt ist, neigt oft zu Überbewertungen der Schauspiele auf den öffentlichen Bühnen. Entsprechend zugespitzt ist drum häufig die Tendenz der Berichterstattung und Kommentierung. Hinzu kommt die alte, zynische, journalistische Regel, dass nur schlechte Nachrichten gute Nachrichten seien. Will sagen – je reißerischer die Story, desto besser sind (vermutlich) der Verkauf der Zeitung und die „Quote“ bei Funk und Fernsehen.  Natürlicb ist es journalistische Pflicht, auch über die negativen bis fürchterlichen Ereignisse zu berichten, die sich täglich in der Welt abspielen. Auch über die Ungerechtigkeiten, die zu unbeschreiblichem Reichtum einiger Weniger auf der einen Seite führen und zu unsäglicher Armut und bitterster Not von Vielen auf der anderen. Beispiele von alledem flimmern täglich in Fülle über die Bildschirme und füllen die Seiten der Blätter.

Man könnte, keine Frage, manchmal depressiv werden angesichts der Menge an schlimmen Nachrichten und Bildern, die uns praktisch unaufhörlich überrollen. Ein Mord, vielleicht aus islamistischem Motiv, ein Überfall, ein Raub oder ein Einbruch, von wem auch immer verübt, aber wird nicht dadurch ungeschehen, dass man ihn verschweigt. Im Gegenteil. Gerade dadurch wächst ja der Druck auf die politisch Verantwortlichen, möglichst zügig nach Lösungen zu suchen. Und ihrem Amtseid gerecht zu werden. Nämlich den Nutzen des deutschen Volkes zu mehren und Schaden von ihm abzuwenden. Wenn, zum Beispiel, seit schon geraumer Zeit jedermann verspürt, dass sich in der Gesellschaft Sorgen und Ängste vor unkontrollierter Zuwanderung von Menschen aus fremden Kulturen aufbauen, dann werden diese nicht weniger, wenn Politik und Presse das nicht aufgreifen. Genau das beschreibt im Prinzip die aktuelle Situation in Deutschland. Ob die selbst gewählte wirtschaftliche Abhängigkeit von billigem Öl aus Russland, die durchaus gebremste Bereitschaft in der „Zivilgesellschaft“ zu weiteren Hilfen an die von Moskau überfallene Ukraine in Milliardenhöhe, ob der geradezu sprunghaft anwachsende Antisemitismus ausgerechnet im Land der Erfinder von Auschwitz u. ä. und ausgerechnet (wieder einmal) ausgehend nicht zuletzt von den Universitäten, ob das peinliche Gezänk über die Migrationspolitik und den Umgang mit Straftätern aus dem Flüchtlingsbereich – das alles und mehr zusammen- oder für sich genommen könnte schon Basis sein für ein apokalyptisches Gemälde.

Genau dieses Gemälde wird unserer Gesellschaft medial jeden Tag geliefert. Und darüber verschwindet ganz offensichtlich das Bewusstsein dafür, dass hier nur ein Teil Wirklichkeit abgebildet ist. Während jener andere Teil so gut wie unerwähnt bleibt, der die helle, liebenswerte Seite von Land, Kultur und Leuten sowie die Vorzüge des sozialen und demokratischen Systems gegenüber jedem autokratischen Befehl und Gehorsam unter Beweis stellen würde. Und zwar überzeugend und mit Fakten leicht belegbar. Wer selber einmal ein paar Jahre im Ausland (das muss gar nicht unbedingt in der „Dritten Welt“ gewesen sein) gelebt hat, dem erscheint – mit Blick von außen – die Bundesrepublik trotz aller Probleme noch immer in vielen Bereichen erstrebenswert. Zurückgekehrt hat der zeitweilige „Emigrant“ dann freilich häufig Mühe, sich wieder zurechtzufinden in einer Gesellschaft, in der oft nicht einmal blauer Himmel und Sonnenschein als angenehm kommuniziert werden. Kurz: Dem Heimkehrer präsentiert sich in der Regel eine mürrische Mehrheit.

Ein irischer Freund beschrieb bereits vor Jahren einmal den (in seinen Augen) „prinzipiellen Unterschied zwischen uns Iren und euch Deutschen“ wie folgt: „Wir Iren sind arm, ihr Deutschen seid das nicht. Wenn bei uns die Ehefrau vom Blitz erschlagen wird, bedauern wir das natürlich sehr. Aber wir sagen ´Es hätte noch schlimmer kommen können´. Wenn hingegen bei euch irgendeine Kleinigkeit von der vorgegebenen Norm abweicht, jammert ihr sofort ´Um Gottes Willen, schlimmer kann es gar nicht werden!`“. Das ist natürlich eine satirische Überspitzung, enthält jedoch – wenn man ehrlich ist – eine große Spur Wahrheit. Und vielleicht hat ja wirklich, worauf die Antworten auf die Fragen der Shell-Studie hindeuten, eine Mehrheit unserer jungen Mitbürger den Kern der alten Weisheit verinnerlicht, dass es nicht nur besser für das eigene Gemüt ist, das Glas halb voll und nicht halb leer zu sehen, sondern auch den Glauben an die eigene Leistungsfähigkeit im Sinne von „Das schaffe ich!“ zu festigen hilft. Was also lehrt uns die Studie? Noch ist Deutschland nicht verloren? Verloren in einem Jammertal erfüllt von Ärger und Wut auf „die da oben“?

So erfreulich das Ergebnis der Shell-Studie (wenn die wissenschaftliche Erkenntnis von der Lebenswirklichkeit bestätigt werden sollte) auch ist, so vermeldet die Realität der tatsächlichen politischen Reife, dass Jugend nicht unbedingt auch politische Tugend beinhaltet. Wenn rund ein Drittel der jugendlichen Wahlberechtigten bei den jüngsten drei Landtagswahlen in Ostdeutschland die rechtsextreme AfD angekreuzt hat, so gibt dies ohne Frage Anlass zu Besorgnis. Dass sich Zehntausende zudem mit arabischen Randalierern gegen Israel und – schlimmer noch – „die Juden“ solidarisieren, muss diese Sorgen noch anwachsen lassen. Und was tut die ansonsten doch bei allem und jedem mürrisch grummelnde Mehrheit? Sie schweigt. Warum? Vielleicht, weil sie erst einmal abwarten, wohin das Pendel letztendlich ausschlägt?

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel..

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