Das Jahr der Maske
Von Gisbert Kuhn

Wie oft haben wir in den vergangenen Tagen unsere guten Wünsche an Freunde und Bekannte zum Weihnachtsfest mit dem Zusatz versehen: „…und alles Gute im Neuen Jahr“!? Und wie oft haben wir diesen Halbsatz selbst zu hören bekommen. Ein Ritual. Ganz bestimmt ehrlich gemeint, wenn man in eine Diskussion über diese Worte eingestiegen wäre. Das ist man aber nicht, so wie Routine-Handlungen oder Aussagen eben in aller Regel nicht erwähnenswert sind.
Aber diesmal war – und ist noch immer – alles anders. Obwohl wir vor 12 Monaten auch mit guten und besten Wünschen für 2020 bedacht, ja geradezu überhäuft worden waren. Ein kleines, mikroskopisch winziges Virus mit der Bezeichnung Covid 19 und dem putzigen Beinamen „Corona“ (also „Krönchen) hat nicht nur die Menschen rund um den Erdball gesundheitlich in Angst und Schrecken versetzt. Viel entscheidender (für gewiss nicht Wenige sogar schockierender) ist jedoch die Erkenntnis, wie zerbrechlich und gefährdet in Wirklichkeit permanent die Menschen, ihre Werke, ihre Gewohnheiten, im weitesten Sinne also auch ihr Leben sind. Anders ausgedrückt – wie blitzschnell sich sogar radikal verändern oder zumindest bedroht sein kann, was noch kurz vorher noch wie in Beton gegossen erschien. Das gilt nicht zuletzt für uns hier auf der nördlichen Halbinsel in unseren so exakt geordneten politischen, wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Gesellschaften.
Als „Jahr der Maske“ ist 2020 bezeichnet worden. Etliche Kommentatoren griffen tiefer in die Kiste mit historischen Erinnerungen und schrieben vom „dramatischsten Jahr seit der Wiedervereinigung“, manche meinten gar „seit Bestehen der Demokratie in Deutschland“. Es ist wahr, Corona und die dadurch notwendigen Einschränkungen und tiefen Eingriffe in das gewohnte Leben haben Spuren hinterlassen. Nie zuvor, schließlich, war hierzulande mit solcher Intensität die Frage diskutiert worden, ob, inwieweit und vor welchem Bedrohungshintergrund sogar verfassungsmäßig garantierte, bürgerliche Grundrechte beschnitten werden dürfen. Immer wieder wurden die Gerichte wegen Maßnahmen angerufen, die von den Regierungen des Bundes und der Länder unter (zwar oft sehr später) parlamentarischer Beteiligung verkündet worden waren.
Auch das gehört zur Wahrheit und zu den Erfahrungen während des jetzt auslaufenden Jahres: Nicht immer waren die Entscheidungen „oben“ durchgängig und für die Bürger verständlich. Vor allem nicht für bestimmte Berufsgruppen sowie etwa Klein- und Mittelbetriebe. Aber ebenfalls nicht immer nachvollziehbar waren etliche Richtersprüche, mit denen Anti-Corona-Maßnahmen wieder „kassiert, oder Protestdemonstrationen mit von vornherein erkennbarem Gewaltpotential gestattet wurden. Zu Recht machte das Wort von einer „weltfremden“ Justiz die Runde.
Von der „Rückkehr zur Normalität“ ist oft die Rede. Als Hoffnungs- und Sehnsuchtsbegriff. „Normalität“ – so klingt das Predigtwort von der Kanzel, so bestimmt es auch die Weihnachts- und Neujahrsansprachen aus dem Kanzler- und dem Präsidialamt in Berlin sowie aus den Hauptstädten der Bundesländer. Und so füllt es auch die Kommentarspalten der Zeitungen. Und keine Frage, genau das – nämlich „Normalität“ – wünschen sich die Allermeisten hier im Lande. Zumindest im Prinzip. Darum natürlich auch die „guten Wünsche für das neue Jahr“. Bloß, wie soll (und, besser noch, wie wird) diese „Normalität“ denn aussehen, die so sehr zurück ersehnt wird? Hat man sich, in Deutschland und darüber hinaus, schließlich nicht schon längst an die Normalität von Entwicklungen und Zuständen gewöhnt, die in Wirklichkeit alles andere als wünschenswert sind?
Tatsächlich haben doch jene Warner recht, die keineswegs erst „seit Corona“ unsere Gesellschaft, unsere Ordnung, ja das demokratische System allgemein in einer Bewährungsprobe sehen. Dass der in der Öffentlichkeit zu vernehmende Ton längst deutlich rauer geworden ist, muss gar nicht betont werden – jeder hat das selbst erfahren, vielleicht sogar daran teilgenommen. Diese Entwicklung ist gewiss nicht von Internet, Facebook und den anderen (un)sozialen Medien „erfunden“ worden. Schlechtes Benehmen geht nie auf Dinge zurück, sondern auf Menschen. Aber die neuen, blitzschnell und weltweit agierenden Medien sind natürlich unglaublich wirksame Verstärker. Die Feuerwehr würde von „Brandbeschleunigern“ reden.
Und genau das geschieht schon seit geraumer Zeit. Bei uns. Längst auch schon ohne Corona und die dadurch bedingten Unannehmlichkeiten und gesundheitlichen Gefährdungen. Es ist das blitzgeschwinde, breitestgefächerte Verbreiten von brandgefährlichen Hass-Parolen, Hetz-Sprüchen gegen Menschen, die ganz einfach nur „anders“ sind. Dazu gehören, nicht zu vergessen, die „Botschaften“ mit leicht- oder auch schwer durchschaubaren Lügen, von scheinbar einfachen (nationalen) Lösungen in Wirklichkeit schwieriger, weil komplexer Probleme. Und dazu zählen mittlerweile – zuweilen sogar „erfolgreiche“ – Aufrufe zu Mord. Noch einmal: Das sind nicht mehr nur einzelne „Entgleisungen“ – das ist täglich zu erlebende „Normalität“.
Und dagegen gibt es kein Medikament in der Apotheke, und es wird (wiederum im Gegensatz zu Corona) in den Laboren auch kein wirksamer Impfstoff entwickelt werden. Hier geht es ganz einfach um Menschen und Menschlichkeit, um Humanität und Solidarität – kurz um Charakter, Erziehung, gegenseitigen Respekt. In den öffentlichen und veröffentlichten Foren macht, in diesem Zusammenhang, gern der Begriff von der „schweigenden Mehrheit“ die Runde. Es ist wohl ganz sicher wahr, dass die Radikalen im Land – AfD, Pegida, Querdenker, Reichsbürger, Identitäre und wie sie sich auch nennen mögen – in Tat und Wahrheit nur eine Minderheit darstellen. Aber sie geben auf den Straßen und in den „Diskussionen“ unüberhörbar den Ton an.
Sich daran zu erinnern, nach Wegen zu suchen, diese „schweigende Mehrheit“ zum Sprechen und vor allem zum Widerspruch zu ermuntern, sollte darum auch in den Wunsch nach einer „Rückkehr zur Normalität“ einfließen. Kritik an Politikern und Politik ist nicht nur berechtigt, sondern auch notwendig. Und wenn die Corona-Krise mit all ihren tiefgreifenden Auswirkungen auf das Leben jedes Einzelnen bewältigt sein wird, dann muss es – ohne Frage – zu einem großen Aufwasch kommen. Denn – erneut fraglos – es sind eine Menge Fehler begangen worden. Wie hätte das aber auch vermieden werden können bei dem Druck der Verhältnisse und entsprechenden notwendigen Entscheidungen. Und ganz gewiss wünscht sich kaum jemand aus dem Kreis der aktuellen Kritiker, selbst derartige Maßnahmen verkünden zu müssen.
Doch es steht mehr an als Normalität und Manöverkritik. Das Wort „Bewährungsprobe“ für unsere Gesellschaft ist schon richtig. Etwas mehr als die Hälfte der Deutschen, sagen die Meinungsforscher, hat noch Vertrauen in den Staat, so wie er verfasst ist. Mehr als die Hälfte? Das ist nicht überwältigend viel. Zugleich sieht jeder beim Blick über die Grenzen, dass es diesem Land und seinen Bürgern doch – vergleichsweise – gut geht. Warum also hält die „schweigende Mehrheit“ den Mund, wenn die Schreier auf den Straßen Rabatz machen? Galt in Deutschland nicht einmal das Versprechen „Nie wieder“? Wie ein Schwur? Nie wieder Radikalismus und Extremismus, nie wieder Antisemitismus und Fremdenhass! Das war einmal „normal“. Und eine Rückkehr dazu wäre damit ebenfalls ein Schritt zurück zur „Normalität“. In diesem Sinne: Alles Gute zum Neuen Jahr!
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