Prof. Dr. Eugen Gerstenmaier konnte mitunter ganz schön boshaft sein. Der Deutsche Bundestag, befand er einmal despektierlich, sei „keineswegs der Querschnitt des deutschen Volkes, sondern allenfalls dessen Durchschnitt“. Der CDU-Politiker und Theologie-Professor hat gewusst, wovon er sprach. Schließlich saß er von 1954 bis 1969 ganze 14 Jahre, zwei Monate und 15 Tage  dem Bonner Parlament als Präsident vor – eine bis heute noch von niemand anderem mehr erreichte Rekordzeit. Der sarkastische Schwabe kannte also seine Kollegenschaft.

Ist da noch das „Volk“ vertreten?

Wird der Anteil von Beamten und öffentlich rechtlichen Angestellten im kommenden Bundestag noch größer?

Die Vorstellung wäre reizvoll, was Gerstenmeier wohl über die aktuelle Volksvertretung und deren Vorgängerinnen in den – sagen wir – vergangenen zwei oder Jahrzehnten sagen würde. Nähme er diesen Begriff überhaupt in den  Mund? Vertretung des Volkes – das bedeutet, im Wortsinne, doch ein wenigstens einigermaßen realistisches Spiegelbild der Gesellschaft mit deren vielfältigen Facetten und Berufskategorien. Davon kann freilich längst keine Rede mehr sein. Natürlich gab es auch in den Anfangsjahren der Bundesrepublik schon in die Politik entsandte Repräsentanten großer Interessengruppen. Etwa die aus der Wirtschaft, aus den Gewerkschaften, den Kirchen, dem Handwerk oder der Landwirtschaft. Und nicht zu vergessen – dem Öffentlichen Dienst.

Inzwischen haben sich, indessen, die Gewichte deutlich verschoben. Nämlich zu einem unübersehbaren – relativen – Übergewicht des Öffentlichen Dienstes. Von den 630 Abgeordneten des in wenigen Tagen abtretenden 18. Bundestags kommen 149 aus dem Bereich Beamte und anderer Staatsdiener, sind also Lehrer, Polizisten, Verwaltungsleute usw. Damit stellen sie rund ein Viertel. Anders ausgedrückt: Gemessen an den insgesamt rund 41 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland, von denen sie etwa elf Prozent ausmachen, ist der Öffentliche Dienst politisch also stark vertreten.

Die Düsseldorfer „Wirtschaftswoche“ zitiert in einem weiteren Zusammenhang mit dieser Entwicklung den Berliner Soziologen Oskar Niedermayer, der in einer Studie feststellte, dass in den Parteien der prozentuale Anteil von Beamten und öffentlich rechtlichen Angestellten sogar noch größer ist als im Bundestag. Vor allem bei den Grünen: 45 Prozent. Aber auch in der SPD bringt es diese Gesellschaftsgruppe in der jetzt auslaufenden Wahlperiode auf 42 und in der CDU immerhin ebenfalls noch auf 31 Prozent.

Unschlagbarer Vorteil

Wer als Beamter für ein Parlament kandidiert, hat grundsätzlich Anspruch auf Beurlaubung und ein Rückkehrrecht

An dieser (übrigens auch in den Landesparlamenten vorherrschenden) Schieflage wird sich auch im nächsten Bundestag nichts ändern. Denn über alle Parteigrenzen hinaus ist unter den gemeldeten Kandidaten der Öffentliche Dienst erneut vergleichsweise stark überrepräsentiert. Der Grund? Dieser Beschäftigtenkreis hat gegenüber praktisch allen anderen Berufsgruppen einen enormen Wettbewerbsvorteil, den auch der Pressesprecher des Deutschen Beamtenbunds (dbb), Frank Zitka, gar nicht leugnet: „Beschäftigte im Öffentlichen Dienst haben das Privileg, dass sich eine Beurlaubung leichter organisieren lässt“. Für Selbständige, etwa kleinere Firmen wie Autowerkstätten mit ein paar Mechanikern, „ist das schlicht nicht praktikabel“ (Zitka).

Das ist noch ziemlich zurückhaltend formuliert. Wer als Beamter für ein Parlament kandidiert, hat grundsätzlich Anspruch auf Beurlaubung und – fast wichtiger noch – ein Rückkehrrecht. Die früher sogar noch zugestandene automatische Regel-Beförderung am Ende einer Legislaturperiode wurde mittlerweile zwar um einiges enger gefasst. Aber die Privilegierung gegenüber anderen Berufsständen war damit keineswegs vorbei. Beispiel: Wenn sich ein Beamter nach vier Jahren Bundestagszeit bei seinem „alten“ Arbeitgeber zurückmeldet, zugleich jedoch seine erneute Kandidatur anmeldet, wird er wieder dafür beurlaubt. Praktisch also ein Rundum-sorglos-Paket. Da müssten jedem Freiberufler eigentlich die Tränen kommen.

Interessant für Anwälte

Von den 620 MdB’s sind bloß noch 35 Unternehmer

Immerhin, es gibt eine Berufsgruppe, für deren Angehörige ein Parlamentsmandat ganz offensichtlich ebenfalls durchaus reizvoll erscheint – das sind die Rechtsanwälte und Notare. Nach Aussage der Anwaltskammer praktizieren in Deutschland gegenwärtig rund 160 000 Anwälte. 80 davon drücken die Sessel des Berliner Reichstagsgebäudes. Das heißt, nahezu jeder achte Abgeordnete kommt aus diesem Bereich. Gesunken ist  dagegen ständig der Anteil von Unternehmern. Im allerersten Bundesparlament – es umfasste damals noch lediglich 499 Mitglieder – saßen noch 71 Unternehmer. Heute (620 MdB´s) sind es bloß noch 35. Einer davon ist der Koblenzer CDU-Mann Michael Fuchs, der in wenigen Tagen allerdings auch ausscheidet. Er beklagt vehement die zu geringe Repräsentanz von unternehmerischem Sacherstand angesichts der „Wirtschaftsfremdheit in den Parteien“, die er in Sonderheit bei den Grünen ausgemacht hat. Mitunter müsse man es schon als Erfolg werten, „Schlimmeres verhindert zu haben“. Das sei, befindet darum auch der zuständige Berufsverband, „keine gute Entwicklung. Die politische Führung einer Industrienation wie Deutschland braucht dringend die Erfahrung und das Wissen der Unternehmer“.

Was wäre eine Erinnerung an das eingangs angesprochene Gerstenmaier-Zitat vom Querschnitt oder Durchschnitt des deutschen Volkes ohne jene nicht unerhebliche Schar von Politikern wenigstens kurz zu streifen, die ihre Berufe, Studiengänge oder auch die mit Abbrüchen geendete Versuche mitunter geradezu kunstvoll im Bundestags-Handbuch und auf ihren Internet-Seiten kaschieren, verstecken oder verniedlichen? Einfach ist das Entschlüsseln noch, wenn unter „Beruf“ die Angaben „Geschäftsführer“ oder „Dreher“ stehen. Dann bedeutet die Übersetzung im ersten Fall: Ist über die Arbeitgeberschiene gekommen. Und im zweiten Beispiel kann man sicher sein, dass der Erwähnte im Verlauf seines Lebens möglicherweise zwar eine Reihe von Dingern gedreht hat, aber ganz gewiss schon lange kein Eisen mehr. Im Klartext: Hier ist einer von der Gewerkschaft aktiv.

Bleiben also jene ohne überhaupt einen Berufs- bzw. Bildungsabschluss. Oh ja, auch die trifft man im Berliner Parlament an. Kundige Zeitgenossen beziffern deren Anteil sogar auf bis zu 30 Prozent. Wer sich darunter befindet? Nicht wenige so genannte Promis. Um dies herauszufinden, sei ein Spielchen empfohlen. Ein paar Klicks im Internet, und der interessierte Leser wird vielleicht sein blaues Wunder erleben…

Gisbert Kuhn

Titelfoto: ©Jürgen Matern / Wikimedia Commons

 

     

 

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