Dämmerung des Christentums
Von Wolfgang Bergsdorf
Die Gottesdienste an Weihnachten waren trotz Pandemie-Bedingungen so voll wie nie sonst während des Jahres. Dennoch hatte das Christfest des Jahres 2021 eine Besonderheit- es könnte das letzte gewesen sein, das in einer christlichen und christlich geprägten Mehrheitsgesellschaft stattfand. Wenn zum nächsten Mal die Kirchenglocken zur Mitternachtsmette einladen, dann werden – mit hoher Wahrscheinlichkeit – die Mitglieder der katholischen und der evangelischen Kirche in Deutschland zusammen unter 50 Prozent der Gesamtbevölkerung geraten sein.
Dies ergibt sich aus den aktuellen Zahlen der Kirchenmitglieder und aus der Fortschreibung der Statistik der Taufen, der Austritte und der Todesfälle bei beiden Kirchen. Natürlich sind Entkirchlichung und Entchristlichung keine neuen Phänomene. Die Verdunstung des christlichen Glaubens in Deutschland, von dem Josef Kardinal Ratzinger (der spätere Papst Benedikt XVI) schon in den achtziger Jahren immer wieder sprach, hat einen langen Vorlauf, der bis in die Sechzigerjahre zurückreicht. Aber die Geschwindigkeit, mit der diese Prozesse vorangetrieben werden, wurde durch den Skandal des massenhaften Kindesmissbrauchs und – vor allem – dessen Vertuschung durch die kirchlichen Hierarchien erhöht.
Dazu einige Zahlen, die allesamt vom Institut für Demoskopie Allensbach erhoben wurden. Denn die Meinungsforscher vom Bodensee sind die Einzigen, die sich für diese grundlegenden Themen überhaupt interessiert und dazu seit Jahrzehnten Daten zusammengetragen haben. Während in den 60-er Jahren noch 60 Prozent der Befragten angaben, gelegentlich in die Kirche zu gehen, ist dieser Anteil auf heute unter 30 Prozent gesunken. 1995 erklärten 37 Prozent der Befragten, Mitglied in der evangelischen Kirche zu sein, in einer aktuellen Umfrage ist die Zahl auf 28 Prozentteile zurückgefallen. Bei der katholischen Kirche schmolzen die Zahlen im gleichen Zeitraum von 36 auf 25 Prozent.
Noch also gibt es in der deutschen Gesamtgesellschaft etwas mehr als die Hälfte Mitglieder in den beiden Kirchen. Es dürfte aber eher nur noch Monate als Jahre dauern, bis die „eingetragenen“ Christen hierzulande in die Minderheit geraten. Wenn man die Zahlen genauer anschaut, wird die Erosion des christlichen Glaubens noch deutlicher. 23 Prozent der befragten Katholiken gaben in der aktuellen Dezember-Umfrage an, gläubige Mitglieder ihrer Kirche zu sein und sich ihr eng verbunden zu fühlen. Dieser Anteil entspricht sechs Prozent der Gesamtbevölkerung. Bei den Protestanten machten die Mitglieder 12 Prozent aus, und damit gerade mal noch etwas mehr als drei Prozent der Gesamtbevölkerung. Die meisten Mitglieder beider Kirchen fühlen sich, ihren eigenen Angaben zufolge, zwar „eher als Christen“, stehen aber den kirchlichen Institutionen „eher kritisch“ gegenüber. Deshalb ist es kein Wunder, wenn jedes dritte befragte Mitglied einer Kirche schon einmal mit dem Gedanken eines Austritts gespielt hat.
Der Gedanke an einen solchen Austritt (und vor allem dessen Vollzug) ist der zweite Schritt in diesem Erosionsprozess, der das Christentum in absehbarer Zeit zu einer Minderheit geraten lässt. Der erste beinhaltet die Absagen an zentrale Glaubensinhalte. Auch sie lassen sich demoskopisch ziemlich exakt verfolgen. Auf die Frage, woran sie glauben, gaben in der aktuellen Umfrage 61 Prozent an, sie glaubten an die Seele, etwas mehr als die Hälfte glaubt an Wunder, ebenfalls 52 Prozent meinten , dass „in der Natur alles eine Seele hat, auch Tiere und Pflanzen“. Dieser Detailbefund legt übrigens die Vermutung nahe, dass die Ökologiebewegung starke religiöse Momente okkupiert hat und sie so zur Konkurrenz der Kirchen avanciert ist. Erst an fünfter Stelle der Glaubenshierarchie, nämlich mit 46 Prozent, erscheint „der Glaube an Gott“.
Wenn es um die Einzelheiten des christlichen Glaubens geht, dann zeigt die aktuelle Demoskopie, wie weit der Erosionsprozess in der „Institution Kirche“ schon fortgeschritten ist. 1986 glaubten in Westdeutschland noch 56 Prozent der Befragten, dass Jesus der Sohn Gottes ist. Heute sind es lediglich noch 37 Prozent. Im gleichen Zeitraum – ebenfalls in Westdeutschland – nahm der Glaube an die Dreifaltigkeit Gottes von 39 auf 27 Prozent ab. Der Glaube an die Auferstehung der Toten sank von 36 auf 24 Prozent. Demgegenüber konnten sich spirituelle Vorstellungen mit nur vagem Bezug zum Christentum halten. Der Glaube an die Existenz von Engeln zum Beispiel ist ähnlich stark verbreitet wie schon vor Jahrzehnten. Und der Glaube an Wunder hat sogar noch zugenommen.
Angesichts dieser Daten verwundert es nicht, wenn nur 38 Prozent der Befragten die katholische und 40 Prozent die evangelische Kirche für wichtig im politischen und gesellschaftlichen Diskurs halten. Dabei ist aufschlussreich, dass die über 60-Jährigen zur Hälfte die Kirchen für wichtig erachten, die unter 30-jährigen aber nur noch zu weniger als einem Drittel. Interessanterweise ändert das alles nichts an dem Befund, dass eine fast Zweidrittel-Mehrheit (nämlich 70 Prozent) der Bevölkerung feststellt, das Christentum gehöre zu Deutschland! Von den Katholiken sagen das 86, von den Protestanten 82, von den Konfessionslosen immerhin 55 Prozent.
Dass der Islam zu Deutschland gehöre, meinten nur 17 Prozent der Befragten. Bei dieser Frage gibt es mit mehr als 80 Prozent eine überaus stabile Übereinstimmung. Wie übrigens auch schon 2012, als der damalige Bundespräsident, Christian Wulff, dieses Thema anschlug. Deshalb bedeutet die Erosion des christlichen Glaubens keineswegs zwingend, dass unserer Gesellschaft eine „Islamisierung“ drohe. Möglicherweise sind die islamischen Gemeinden in Deutschland lebendiger als die christlichen. Aber diese Lebendigkeit wird nicht unwesentlich durch die Diaspora-Situation erzeugt, in welcher der religiöse Glaube erfahrungsgemäß häufig persönliche oder Gruppen-Identifikation verschafft. In den Herkunftsländern der Muslime müssen diese auf solche Identifikationsverstärker verzichten.
Wie kommt es, dass die Verdunstung des christlichen Glaubens in den letzten Jahren so große Fortschritte machen konnte? Man muss hier natürlich daran erinnern, dass mit der einstigen DDR 1990 weitgehend „entkirchlichte“ und sogar „entchristlichte“ Regionen der Bundesrepublik Deutschland beigetreten sind. Die alte Bundesrepublik war bis 1990 von einer Kultur der Konfessionszugehörigkeit geprägt. Vor der Wiedervereinigung gehörten 83 Prozent der Bevölkerung einer Konfession an, obgleich auch in Westdeutschland schon – vor allem im Protestantismus – die Kirchenzugehörigkeit im Laufe der Jahrzehnte abgenommen hatte. Heute ist diese Kultur der Konfessionszugehörigkeit nahezu aufgelöst, nachdem die „Entkirchlichung“ inzwischen auch die katholische Kirche erfasst hat.
Der dritte Schritt bei der Erosion des christlichen Glaubens – die Abwendung von den „christlichen Werten“ – ist glücklicherweise noch nicht erreicht. Aber: Wenn die Kirchenmitglieder gesamtgesellschaftlich in die Minderheit geraten, könnte bald der Kipppunkt erreicht werden, der die Geschwindigkeit des Verfallsprozesses beschleunigt. Ähnliches war bereits in den Niederlanden zu beobachten und auch in Frankreich. Für Deutschland gab es ein signifikantes Doppelereignis in den vergangenen Wochen. Nämlich, als Angela Merkel beim Großen Zapfenstreich als Bundeskanzlerin mit einem Kirchenlied verabschiedet wurde und wenig später der aus der evangelischen Kirche ausgetretene Olaf Scholz als neuer Regierungschef seinen Amtseid ohne Gottesbezug („…so wahr mir Gott helfe“) leistete.
Vermutlich ist die Prägekraft des Christentums trotzdem in Deutschland und auch noch in ganz Europa so stark, dass die Zerbröselung des christlichen Glaubens nicht sofort den „ethischen Grundwasserspiegel“ absenken wird. Denn viele christliche Grundwerte wie Nächstenliebe und Gerechtigkeit haben säkulare Kleider angezogen. Jetzt heißen sie Solidarität, Subsidiarität, Fairness und Nachhaltigkeit. Es ist sehr wichtig, dass diese Werte hohe Akzeptanz finden. Das freilich ändert nichts daran, dass die neue Ampelkoalition in Berlin mit den Kirchen wahrscheinlich weniger wird anfangen können als die Vorgängerregierung. In dem sehr umfangreichen Koalitionspapier finden sie nur wenig Erwähnung, obwohl zum Beispiel Caritas und Diakonie zu den größten Arbeitgebern in Deutschland gehören.
Wenn die Kirchen gesellschaftspolitisch in die Minderheit geraten, werden sie keine Sonderstellung mehr beanspruchen können, wie etwa die Erhebung der Kirchensteuer. Die sich der Staat übrigens fürstlich bezahlen lässt. Im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung werden schon jetzt die sogenannten Staatsleistungen infrage gestellt, mit denen die Kirchen für Verluste zur Zeit der Säkularisation entschädigt werden. Also für die Enteignung des umfangreichen Kirchenbesitzes zu Beginn des 19. Jahrhunderts.
Viel problematischer ist freilich die Absicht der Ampelkoalition, den Schwangerschaftsabbruch zum Standard ärztlicher Aus- und Fortbildung zu machen und das Werbeverbot für Abtreibungen zu streichen. Die neue Regierung will die Abtreibung zu einem normalen Eingriff, also zu einer „normalen“ Heilbehandlung machen. Das missachtet den Schutz des ungeborenen Lebens, das dem Schutz des Grundgesetzes ebenso wie das geborene Leben unterstellt ist. Auch das ungeborene Kind hat ein Recht auf Leben. Die aktuelle Gesetzeslage anerkennt die Konfliktsituation der Mutter. Auch wenn der Schwangerschaftsabbruch straffrei bleibt, so konstatiert das Gesetz ihn dennoch als Unrecht. Es ist daher unverständlich, wie die Regierungskoalition Kinderrechte ausdrücklich in die Verfassung schreiben und andererseits eine Lizenz ausstellen will, werdendes Leben zu vernichten. Wenn dann noch im Koalitionsvertrag zu lesen ist, dass gleichgeschlechtlichen Paaren jeder Kinderwunsch erfüllt werden soll durch Leihmutterschaft und andere Möglichkeiten, dann bekommt man eine Vorstellung von dem, was eine postchristliche Mehrheit bewirken kann und wie sich nach Wahlen der Resonanzraum für die Kirchen verengen wird.
Das gilt übrigens auch für die Bundeshauptstadt Berlin, in der jetzt eine rot-rot-grüne Koalition regiert. Eine kleine Meldung über die durch Spenden finanzierte Fassade und Kuppel des wieder aufgebauten Berliner Stadtschlosses hat es bis in die FAZ geschafft: „Es geht nicht an, dass auf diesem Gebäude eine Kuppel mit Kreuz (wie beim historischen Vorbild) gesetzt wird, weil es Spinner gibt, die dafür Geld auf den Tisch legen, um sich ein Denkmal für die Ewigkeit zu setzen“. Das sagt der Berliner Kultursenator Klaus Lederer, Landesvorsitzender der Linken bis 2017, zuvor seit 1992 Mitglied der SED-Nachfolgepartei PDS. Diese Aussage ist für einen Amtsträger bizarr, der normalerweise dankbar dafür sein muss, wenn Private kulturell Aufgaben unterstützen.
Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf (Jahrgang 1941) ist nicht nur Politologe, sondern war, unter anderem als Mitglied von Helmut Kohls so genanntem „Küchenkabinett“, jahrelang selbst aktiv am politischen Geschehen beteiligt. Zudem war Bergsdorf in der Regierungszeit Kohls Leiter der Inlandsabteilung des Bundespresseamtes und anschließend Chef der Kulturabteilung des Bundesinnenministeriums. 1987 war er zum außerplanmäßigen Professor für Politische Wissenschaften an der Bonner Universität ernannt worden. Von 2000 bis 2007 amtierte er als Präsident der Universität Erfurt.
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