Von Gisbert Kuhn

Gisbert Kuhn

Wenn man ein Sprachbild gebrauchen wollte, könnte man sagen, die deutsche Regierungspolitik schlage in diesen Wochen Purzelbäume. Und nicht nur sie. Auch die christdemokratische und -soziale Opposition beteiligt sich daran. Monate lang, ja eigentlich sogar über Jahre drückten sich die führenden Parteien unseres Landes mit wohlfeilen Floskeln um die Pflicht, den Kern ihres Amtseids zu erfüllen – nämlich Schaden vom deutschen Volk abzuwenden. Schlimmer noch: Sie verschlossen einfach ihre Augen vor der Tatsache (und gleichzeitigen Gefahr), dass der ungehinderte, ungebremste und unkontrollierte Massenansturm von Flüchtlingen und Kriegsvertriebenen aus der Ukraine, aus Nahost, Asien und Afrika die deutsche Aufnahmefähigkeit als Land und Gesellschaft zu übersteigern droht.

Jetzt muss auf einmal alles schnell gehen. Gerade hat Bundesinnenministerin Faehser die Hamas und deren Gliederungen in Deutschland verboten. In und zwischen den politischen Parteien wird darüber diskutiert, ob die Zuwanderer nicht weniger an Unterstützung erhalten sollten – und das am besten nicht in Geld-, sondern in Sachleistungen. Außerdem will man das Arbeitsverbot aufheben, damit diese Menschen selbst für ihr Fortkommen sorgen können. Nun sind diese Pläne und Entscheidungen ja nicht plötzlichem, besserem Wissen entsprungen. Sie sind natürlich allesamt das Ergebnis eines jähen Erwachens aus einem schönen Traum. Es war der Traum vom ewigen Frieden, und das Aufwachen erfolgte inmitten einer bösen, feindseligen, blutigen Realität.

Um es genauer auszudrücken: Deutschland (denn dieser Vorwurf trifft keineswegs allein „die da oben“, sondern die Gesellschaft allgemein) gab sich ja über Jahre nicht bloß einem Traum hin, sondern in Tat und Wahrheit der Tagträumerei. Man hatte sich, nach dem Zusammenbruch des Sowjetreiches und der Wiedervereinigung gern das Trugbild vom ewigen Frieden in einem neuen Jahrtausend gemalt, geprägt von die Erde umspannender Freundschaft und Zusammenarbeit. Warnende Signale wurden entweder nicht beachtet oder einfach beiseitegeschoben. Beispiel „Nordstream 2“. Ob die christdemokratische Kanzlerin Angela Merkel, ihr sozialdemokratischer Nachfolger Olaf Scholz oder dessen Parteifreundin und Schweriner Ministerpräsidentin Manuela Schwesig – sie alle, dazu die geballte Wirtschaft plus die an billiges Russengas gewöhnte „Zivilgesellschaft“ hielten an der Ostsee-Pipeline fest, als der Herr im Kreml seine Aggressions- und Eroberungsabsichten längst nicht mehr verheimlichte.

Es wäre darum falsch und billig, alle Schuld und Verantwortung an dem Schlamassel allein „denen in Berlin“ zuzuschieben. Es ist ja wahrhaftig auch keine Schande, sich für die Erhaltung des Friedens einzusetzen, notleidenden Menschen welcher Herkunft, Religion, Hautfarbe und dergleichen zu helfen. Aber es stellt sich schon die Frage nach der politischen Reife, wenn ein Volk – zumindest erhebliche Teile davon – einfach (um des süßen Traumes willen) die hässlichen Dinge um sich herum ausblendet. Lange schon, und immer lauter, hatten bereits die südlichen EU-Mitgliedstaaten Italien, Griechenland, Spanien und Portugal davor gewarnt, zu negieren, was sich jenseits des Mittelmeeres vollziehe. Also dort, wo jetzt die Bootsflüchtlinge auf waghalsige Weise nach Europa strömen. Es geschah jahrzehntelang nichts.

Oder bleiben wir im eigenen Land. Und blicken auf den traurigen Haufen, der sich immer noch Bundeswehr nennt. Sicher, nach dem gewaltigen Paukenschlag – dem von Putin befohlenen russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 – erinnerte man sich daran, dass man ja eine eigene Streitmacht hatte. Und nahm plötzlich deren erbärmlichen Zustand wahr, in den sie als institutionalisierte „Friedensdividende“ zusammengespart worden war. Und zwar keineswegs allein von der unglückseligen Christine Lambrecht. Der einstige Polit-Glamourboy Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) steht immerhin für die faktische Abschaffung der Allgemeinen Wehrpflicht, Ursula von der Leyen blähte zwar den Leitungsbereich des Verteidigungsministeriums um zahlreiche, vor allem aber teure, weibliche „Experten“ auf und ließ die soldatischen Unterkünfte gemütlicher ausstatten, was freilich am allgemeinen Abwärtstrend der Parlamentsarmee nichts änderte.

Das ist allerdings auch kein Wunder. Denn Politik wie Gesellschaft hatten ohnehin offensichtlich jegliches Interesse an zwei Begriffen verloren, die in Wahrheit jedoch existenziell sind für jedes Land und jede Nation – Außenpolitik und Sicherheitspolitik. Nicht nur im Tagesgeschäft spielte beides lange praktisch keine Rolle mehr. Gleiches galt sogar für die normalerweise hitzige Zeit der Wahlkämpfe. Wer dennoch einmal daran erinnerte, bekam meistens schnell zu hören: „Wir sind doch, zum ersten Mal in unserer Geschichte, nur noch von Freunden umgeben“. Das ist, im Prinzip, ohne Frage richtig. Aber – siehe Polen oder Ungarn – auch Freunde und Bündnispartner können schnell die Freundschaft erkalten lassen, wenn ihnen eigene – nationale – Interessen wie etwa Öl und Gas aus Russland wichtiger erscheinen.

Das ist, nüchtern betrachtet, das Erscheinungsbild, in dem Deutschland bei nahezu jeder Gelegenheit erklärt, es wolle mehr Verantwortung beim Regeln des Geschehens in der Welt übernehmen. Beim genauen Hinschauen drückt sich diese Verantwortung zumeist in Zahlen aus. Oder besser: in Zahlungen, die – zum Beispiel als humanitäre Hilfe – sicherlich notwendig sind, aber das deutsche Gewicht in der Welt kaum vergrößern werden. Und da man militärisch (zumindest noch nicht wieder) praktisch nichts zu bieten hat, kann man weder bei der NATO noch in der EU glaubwürdige Anstöße für eine aktive, gemeinsame europäische Außen-, Friedens- oder Befriedungspolitik geben.

Zu welchen Verrenkungen eine solche Position führen kann, wurde erst jüngst wieder einmal deutlich als sich Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) im UN-Sicherheitsrat bei der Abstimmung über eine erkennbar einseitig pro-palästinensisch abgefasste Resolution zum Krieg gegen die Hamas der Stimme enthielt. Dieses „Jnein“ mag dazu gedacht gewesen sein, die Drähte zur arabischen Seite nicht ganz zu kappen. Bei den Israelis hat solche deutsche Entschlossenheit indessen wohl kaum Freude ausgelöst. Nicht zu vergessen – seit Merkels Zusicherung von 1977, Israels Sicherheit gehöre „zur deutschen Staatsraison“, ist dies ein zentrales Element der Berliner Außenpolitik. Oder sollte es wenigstens sein.

Und nun Hektik in der bislang so vernachlässigten Sicherheitspolitik im Innern. Ist es unfair, daran zu erinnern, dass und warum man unbedingt an der Offenheit und Liberalität Deutschlands festhalten wolle? Unnütz, auch nur einige wenige Beispiele aus der Vielfalt der Schwüre zu wiederholen. Denn alles (oder wenigstens das meiste davon) ist inzwischen Makulatur. Schnellere und entschiedenere Abschiebung von „illegalen“ Migranten – mal sehen, was davon wirklich umgesetzt werden kann. Schärfere Grenzkontrollen – mag sein, aber wenn eine Person bloß das Wort „Asyl“ ausspricht, muss sie für die Dauer ihres Verfahrens ins Land gelassen werden. Außerdem – was immer in den vergangenen Tagen und Wochen entschieden und verkündet wurde, ist ja nicht etwa die Frucht neu gewonnener oder besserer Erkenntnisse.

Nein, ganz gewiss nicht. Es sind die dramatisch gewachsenen Stimmenzuwächse der rechtsextremen, in nicht wenigen Aussagen sogar an die Nazis erinnernden „Alternative für Deutschland“ (AfD) und die oft genug gewaltsamen und antisemitischen Massendemonstrationen arabischstämmiger Zuwanderer in Berlin und vielen anderen Deutschen Städten, die alle Alarmglocken haben schrillen lassen. Nicht zu vergessen: Diese, offensichtlich auf Knopfdruck jederzeit zu Hass, Wut und Empörung bereiten Menschen waren doch eigentlich einmal nach Deutschland gekommen, um selber Schutz und Sicherheit zu finden. Oder etwa doch aus anderen Grund?

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.

 

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