Johannes Gerster: Ein Lesebuch über die Dramatik bei der Wiedervereinigung

Von Gisbert Kuhn

Johannes Gerster

Dreißig Jahre ist es mittlerweile her, dass Deutschland sich nach zuvor 45 Jahren der Teilung wieder vereinigen durfte. Einerseits schon wieder eine ganz schön lange Zeit – fast zwei Generationen umfassend. Hingegen, in geschichtlichen Dimensionen betrachtet, nur ein kurzer Augenblick. In Wirklichkeit war freilich das, was am 3. Oktober 1990 vollendet wurde, ein Vorgang von unglaublicher Bedeutung. Ende der DDR, Ende des Ost/West-Gegensatzes, Ende des Eisernen Vorhangs, Ende des Kalten Krieges, Ende einer ganz bestimmten weltpolitischen Epoche. Und das alles, ohne dass auch nur ein Schuss gefallen wäre! Nicht Wenige, vor allem hierzulande, träumten von neuen, allumfassend friedvollen Lebensumständen der Menschen.

Nicht erst jetzt, nach drei Jahrzehnten, ranken sich (sofern das Thema überhaupt noch Eingang in Gesprächsrunden findet) mitunter fantasievolle Mythen, tiefsitzende Stereotypen und seltsame Erinnerungen an die in Wirklichkeit dramatischen Ereignisse vor allem der Jahre 1989/90. Die Wiedervereinigung, kann man zum Beispiel vernehmen, sei doch praktisch von allein gekommen. Helmut Kohl – Kanzler der Einheit? Unsinn! Jedem anderen wäre doch derselbe Erfolg praktisch in den Schoß gefallen.  Und, im Übrigen, das sei allein Gorbatschow zu verdanken gewesen, usw, usw. Vor wenigen Tagen ist zu diesem Thema ein Buch erschienen, das sich zu lesen lohnt. Geschrieben von einem Mann, der seinerzeit mitten drin war in den innenpolitischen und innerdeutschen Vorbereitungen, Verhandlungen und natürlich auch Auseinandersetzungen – Johannes Gerster, damals CDU-Bundestagsabgeordneter sowie als einer der Antreiber und Vermittler Strippenzieher, rechtspolitischer Weichensteller und tatkräftiger Ratgeber bei den komplizierten Problemen der Angleichung von Justiz, Wirtschaft und Währung zwischen den beiden deutschen Staaten.

Zwischen den Welten

„Die Wiedervereinigung 89/90. Ich war dabei“ ist, im Sinne des Wortes, ein Lesebuch. Der Autor – ein Mainzer, Jahrgang 1941 – schreibt, auf Fakten basierend, einfach und damit auch für die Nachgewachsenen leicht les- und nachvollziehbar seine damaligen Erlebnisse nieder.  Er skizziert die Aufbruchstimmung im Osten nach Überwindung der kommunistischen Diktatur, zeichnet aber zugleich sowohl die dort entstandenen Utopien hinsichtlich der Zukunftsgestaltung als auch die in der westlichen Gesellschaft vorhandene weitgehende Unkenntnis über „die dort drüben“ nach. Jenes Gemisch also von Freude, Hilfsbereitschaft, Engagement, aber auch kapitalistischem Raubrittertum im Westen einerseits. Und grenzenlosen Träumen von Freiheit, vielleicht leichtem Wohlstand, Glück, aber auch Verstrickung im real-sozialistischen Überwachungssystem und dem (bis hin zum persönlichen Scheitern) schmerzhaften Begreifen, wie sehr die bisherige eigene Lebenswirklichkeit mit den neuen Verhältnissen zu vereinbaren sein  wird.

Wie Gerster, ist es in jenen Tagen Vielen gegangen in Ost und West. Sie agierten sozusagen zwischen den Welten und mussten versuchen, diese Welten irgendwie zusammenzuführen. Und zwar in einer aus heutiger – normal und geordneten Sicht – kaum noch vorstellbaren kurzen Zeit. In jenem, schmalen „Zeitfenster“, das die internationale Politik damals für die neue „deutsche Frage“ bereithielt. Wozu, nicht zuletzt, die Sorge um das politische Schicksal des sowjetischen Parteichefs Michail Gorbatschow gehörte. Die Frage war mithin nicht in erster Linie, dass unter solchem Druck Fehler begangen wurden, sondern dass nicht noch sehr viel mehr geschahen.

Deutliche Distanz zu Merkel

Selbst wer in jener turbulenten Zeit selbst als Zeuge oder Aktiver dabei war, findet in den Texten von Johannes Gerster noch so manche zusätzliche Information. Das Autor ist (traditionell) bekannt für seine Liebe zur „deutlichen Sprache“. Aber er hat auch nie ein Hehl daraus gemacht, dass er nicht gerade zu den Anbetern von Angela Merkel gehört. Die mittlerweile schier „ewige“ Bundeskanzlerin und über lange Jahre CDU-Vorsitzende war in der Endzeit der DDR stellvertretende Sprecherin der ersten (und einzigen) freigewählten Ost-Berliner Regierung mit dem Ministerpräsidenten Lothar de Maizière an der Spitze. Es ist geradezu amüsant zu lesen, wie Gerster die persönliche Entscheidung Merkels zugunsten der CDU beobachtet hat. Es ging um die knifflige Frage, ob der aus der Protestbewegung hervorgegangene „Demokratische Aufbruch“ (DA) sich mit der CDU vereinigen würde. Nach Gersters Einschätzung habe sich in Merkels Überlegungen die Überzeugung verfestigt, dass der DA für sich genommen keine politische Überlebenschance gehabt hätte. Daher: „Statt Sympathie für die Union wohl nur Kalkül und Berechnung“.

Zusammengefasst: Wer politisch und historisch interessiert ist und Schilderungen von Zeitzeugen einem Wissen aus Wikipedia und ähnlichen Quellen vorzieht, sollte auf alle Fälle nach den Erinnerungen von Johannes Gerster greifen. Und zwar auch dann, wenn er dessen  permanente Anwendung der „politisch-korrekten“ geschlechtlichen Benennung von Personen („Teilnehmer und Teilnehmerinnen“, „Demonstranten und Demonstrantinnen“ usw.) als aufdringlich bis ermüdend empfindet. Außerdem empfiehlt der Kritiker dem Autor die korrekte Zitierung einer damals hunderttausendfach im Osten skandierten Losung: „Kommt die D-Mark, bleiben wir. Kommt sie nicht, geh´n wir zu ihr“. Die deutsche Vereinigung – gelungen? Johannes Gerster schaut heute, zu Recht, stolz auf das Erreichte. Auch wenn hie und da noch immer auch ein bisschen Zorn aufkommt.

Johannes Gerster: „Die Wiedervereinigung 89/90. Ich war mittendrin“

ISBN 978-3-945782-63-7

12 Seiten, € 14,00

Leinpfad Verlag, Ingelheim

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