Ein „Weg der Hoffnung“ auf dem Todesstreifen
Von Gisbert Kuhn
Hoch auf dem Kamm der Rhön, ziemlich exakt zwischen den Städten Fulda und Eisenach sowie genau auf der hessisch-thüringischen Grenze, steht ein in Deutschland einzigartiges Kunstwerk. In fast zweijähriger Arbeit hat der 1955 in Weimar geborene, aber seit weit mehr als einem Vierteljahrhundert im oberhessischen Städtchen Schlitz lebende Künstler Ulrich Barnickel einen aus rostendem Eisen geschmiedeten „Weg der Hoffnung“ geschaffen. Es ist ein eindrucksvolles Symbol der nach mehr als 40-jähriger Trennung überwundenen Spaltung Deutschlands. Über 1,5 Kilometer begegnet der Besucher auf dem ehemaligen Todesstreifen zwischen Deutschland und Deutschland 20 bis zu sechs Meter hohen Skulpturen. Aufgestellt hat sie Barnickel – allein oder in Gruppen – als 14 Leidensstationen analog dem biblischen Kreuzweg. Doch obwohl die eisernen Gestalten in jeder Form abgrundtiefes menschliches Leiden, Gewalt und Erniedrigung widerspiegeln, versah der Künstler sein Werk mit dem optimistischen Titel.
Weg der Hoffnung? Gewiss, die Geografie ringsum sorgt (vor allem bei schönem Wetter) für positive Stimmung – die weite Mittelgebirgs-Landschaft der Rhön, nach Osten auf Thüringer Seite das liebliche Ulster-Tal, nach Westen hin versperren nur die Berge des „Hessischen Kegelspiels“ den Blick hinüber zur alten Bischofs- und Barockstadt Fulda. Doch bis Ende der 80-er Jahre war diese Idylle noch höchst trügerisch. Da sprach man bei der NATO sorgenvoll vom „Fulda Gap“. Was so viel bedeutete wie militärisches Einfalltor. Denn dort erwartete das westliche Bündnis im Falle eines Krieges den Ansturm der Warschauer-Pakt-Armeen in Richtung auf das nur rund 80 Kilometer entfernte Frankfurt und an den Rhein. In der DDR waren tatsächlich insgeheim bereits „Blücher-Orden“ geprägt worden für diejenigen Soldaten, die als erste den großen Strom erreichen würden. Deshalb gab es oben auf dem Berg zwischen dem hessischen Ort Rasdorf und dem thüringischen Städtchen Geisa den am weitesten nach Osten vorgeschobenen Beobachtungsposten der US-Armee. Amerikanische Spezialisten und DDR-Soldaten lagen sich dort in einer Entfernung von weniger als 50 Metern gegenüber. „Point Alpha“ hieß diese Basis im Jargon der NATO. Militärfachleute bezeichneten das Areal gern als den „heißesten Punkt im Kalten Krieg“. Selbst ein kleiner Zwischenfall hätte katastrophale Folgen auslösen können.
Gedenkstätte Point Alpha: Für Ulrich Barnickel das „Werk seines Lebens“
Heute sind die einstigen Grenzbarrieren, die rasiermesserscharfen Sperrzäune, Tretminen und Selbstschussanlagen Vergangenheit. Aber darf die Erinnerung an die Opfer der Grenze, an die von Minensplittern und Schüssen zerstörten Freiheitsträume verzweifelter Menschen einfach verschwinden? Auf dem Gelände von Point Alpha (und mit dessen Namen verbunden) befindet sich jetzt eine der vielleicht prägnantesten Mahn-, Gedenk- und Bildungsstätten mit angeschlossenem Museum für die jüngere deutsche Geschichte. Trägerin ist eine Stiftung, hinter der die beiden Bundesländer Hessen und Thüringen, die Landkreise Fulda und Wartburg sowie die zwei oben genannten Orte links und rechts am Fuße des Point-Alpha-Hügels, stehen. Und diese Stiftung war es auch, die den Bildhauer und Schmied Ulrich Barnickel den Auftrag für das Opus erteilte, von dem er selbst sagt, es sei „vielleicht tatsächlich das Werk meines Lebens“. Auf jeden Fall runden die 14 Stationen, die dort oben mit ihren fast schon titanischen Eisenskulpturen den einstigen „Todesstreifen“ säumen, das Gesamtprojekt der Gedenkstätte Point Alpha höchst eindrücklich ab.
Warum aber ein „Weg der Hoffnung“, wenn sich das Dargestellte doch so eindeutig an der Leidensgeschichte Christi orientiert? Es war, interessanterweise, ein Pole, der den Vergleich des ostdeutschen SED-Regimes und der brutalen Absperrungsmaßnahmen mit ihren Wirkungen auf die Menschen sowie der biblischen Passion fand. Jan Karol Kozaczka wirkte lange Jahre als katholischer Pfarrer in dem kleinen ostthüringischen Dorf Buttlar. Das malerische Örtchen am östlichen Fuß der Rhön lag Jahrzehnte lang abgeschnürt in jenem – drei Kilometer tiefen – DDR-Sperrgebiet, in das sogar Bewohner nur mit Sonderausweisen und nach eingehenden Kontrollen Zutritt hatten. Wer von hier in Richtung Westen den Berg hinauf schaute, konnte Wachtürme und Teile der Sperranlagen sehen, die seinerzeit nicht nur Deutsche von Deutschen und Europa trennten, sondern machtpolitisch im Grunde die ganze Welt. Eines Abends, lange nach der „Wende“, saß der polnische Pfarrer mit Leuten von der Point-Alpha-Stiftung zusammen. Man machte sich Gedanken, wie das Vergangene unvergänglich ins Erinnern herüber gerettet werden könne. „Genau besehen“, sagte Kozaczka damals in die nachdenkliche Runde hinein, „ist diese Grenze doch ein wahrer Kreuzweg gewesen“.
Der Geistliche aus Polen ist inzwischen gestorben. Doch sein Einfall, die symbolhafte Gleichsetzung des Leidensweges Jesu mit den Tod verkündenden Grenzbarrieren ist jetzt eiserne Wirklichkeit . Nicht jedoch auch die Übernahme des Begriffs „Kreuzweg“. Denn obwohl von den riesigen und dennoch in ihrer Körperlichkeit auf ein Minimum reduzierten Gestalten – dem erkennbar elendig leidenden Christus, seiner Mutter, den weinenden Frauen und schon gar von den Soldaten und Häschern – nun wirklich nichts Tröstendes ausgeht, hatten sich der Künstler und die damalige Direktorin der Point-Alpha-Stiftung, Uta Thofern, für „Weg der Hoffnung“ entschieden. Beider Begründungen sind durchaus logisch. Obgleich der christliche Einfluss auf das Werk nicht zu übersehen ist, wollte man die Betrachter doch nicht durch die Namensgebung ausschließlich an den christlichen Glauben binden. Vielmehr sollen sich alle Besucher angesprochen fühlen – Christen und Juden genau so wie Moslems, Buddhisten oder Atheisten. „Gelten denn nicht für alle Menschen gleichermaßen der Wunsch und die Hoffnung, dass Unrecht, Gewalt und Unterdrückung eines Tages ein Ende haben werden?“, fragt der Künstler. Für die inzwischen wieder in den Journalismus zurückgekehrte Ex-Stiftungsdirektorin Thofern wiederum „dient, was hier entstand, der Erinnerung nicht nur an die deutsche Teilung, sondern an den Widerstand der Menschen insgesamt gegen die kommunistischen Diktaturen in West- und Osteuropa. Überall ist schließlich der Beweis erbracht worden, dass die Hoffnung auf und das Streben nach Freiheit stärker waren als alle Instrumente repressiver, staatlicher Gewalt“. Durch den brutalen russischen Überfall auf die Ukraine hat das Thema eine beklemmende Realität erhalten.
DDR-Insignien unterstreichen die künstlerischen Botschaften gegen Diktatur
Lange hatten sich Ulrich Barnickel und Uta Thofern, aber auch andere führende Mitglieder der Stiftung, dagegen gewehrt, die Skulpturenreihe überhaupt mit Interpretationen zu versehen. Wäre es nicht besser, so ihre Frage, die Gestalten auf jeden einzelnen Betrachter ganz unbeeinflusst wirken zu lassen? Allein durch die Ausdruckskraft der metallenen Elemente etwa, durch die geschmiedete Bewegung eines gebeugten Körpers, oder vielleicht sogar bloß durch den Farbwechsel der gewollten Rostauflage von Honiggelb bei Sonnenschein und Trockenheit bis zu tiefem Rotbraun nach längerem Regen. Jetzt, allerdings, kann sich der Besucher doch an einem Beiblatt orientieren. Darin steht zwar auch ein vom Erfurter Weihbischof (und Schulfreund Barnickels) zu jeder Station verfasster kurzer Text mit religiöser Ausrichtung. Doch für das Verständnis des Gesamtwerks prägender dürften die Symbolbegriffe sein, mit denen die einzelnen Figuren oder Gruppen belegt sind. Wenn zum Beispiel (Station I) Pilatus im Wissen um dessen Unschuld das Todesurteil gegen Jesus fällt, dann bedeutet das in der Übersetzung schlichtweg „Willkür“. Genauer: Hier zeigt sich die Willkür der Willfährigen in einem diktatorischen Regime, allein um der Machterhaltung Willen bedenkenlos das Recht zu brechen. Dass neben Pilatus ein DDR-Stahlhelm liegt, ist bei Ulrich Barnickel natürlich kein Zufall.
„Klar“, sagt der Künstler, „habe ich hier einen gehörigen Teil meiner eigenen Geschichte und Befindlichkeit eingearbeitet“. Auch er – obwohl sicher privilegiert als Absolvent der berühmten Gestalterschmiede Schloss Giebichenstein in Halle (Saale) – war bis zu seiner Übersiedlung in den Westen jahrelang Zielobjekt der Stasi. Wenn er daher in seiner Plastik (Station XI) „Jesus wird ans Kreuz geschlagen“ (Symboltitel; „Mord“) dem Henkersknecht einen roten Hammer in die Hand schweißt, dann drückt er ihm zusätzlich und nur unzulänglich verborgen auch noch einen Zirkel auf die Hose. Gehörten nicht Hammer und Zirkel zu den Staatsinsignien der SED? Aber auch „Solidarität“ inmitten der Gewalt und Unterdrückung lässt Barnickel zu. Zum Beispiel (Station V), wenn Simon von Cyrene Jesus hilft, das Kreuz zu tragen. Und gegenseitigen Trost, als der leidende Christus bei Station VII den weinenden Frauen begegnet. „Entwürdigung“, klassische Methode despotischer Machthaber gegenüber unliebsamen Bürgern, ist bei Station X nicht schwer auszumachen – dort wird Jesus von einem Soldaten seiner Kleider beraubt. Auch dieser trägt, zweifellos nicht zufällig, einen Stahlhelm der DDR-Armee bei sich und stützt sich zudem noch mit einem Fuß auf einer Granate ab.
Drei Passionsandachten von Pfarrer Michael Mertins
Welche tiefen Eindrücke der „Weg der Hoffnung“ schon vor seiner offiziellen Eröffnung im Oktober 2000 bei manchem Besucher hinterließ, dafür steht als Beispiel der evangelische Pfarrer Michael Mertins von der Kirchengemeinde Ennepetal-Rüggeberg. Obwohl die Kreuzwegstationen noch sehr unvollständig waren, fasste der Geistliche sein Empfinden bereits im März jenes Jahres in drei Passionsandachten daheim ausführlich zusammen. Nun wusste dieser Mann allerdings auch, wovon er redete. Mertins lebte als Kind und Jugendlicher selber im Sperrgebiet mit Drangsalierung, Gewalt und sogar Denunziation. Wenn der Pastor jetzt wieder zur Mahn- und Bildungsstätte Point Alpha kommt, dann wird er vermutlich mit besonders frohem Blick am Ende des „Weges der Hoffnung“ durch ein – ebenfalls symbolisch gemeintes – riesiges, offenes Eisentor in die weite, schöne Rhönlandschaft schreiten. Das Tor steht stellvertretend für die Freiheit. Und oben, an einem Pfosten ist die Dornenkrone abgelegt, die der eiserne Jesus bis dahin immer trug. „Seht her“, heißt das, „hier hängt dass Zeichen von Folter und Pein. Beides ist am Ende doch überwunden worden“. So, wie in ganz Deutschland schließlich die Freiheit kam.
Das öffentliche Inrteresse an Point Alpha gibt den Initiatoren Recht. Schon in den ersten zwei Jahren ihres Bestehens kamen jeweils etwa 100 000 Besucher, darunter in zunehmender Zahl Schulklassen und Jugendgruppen aus dem In- und Ausland. Dort erleben sie die Geschichte der deutschen Teilung nicht theoretisch wie vom Schulkatheder aus vermittelt, sondern von Menschen, die in aller Regel von ihren eigenen – meist schmerzlichen – DDR- und Grenzerfahrungen mit geglückter oder gescheiterter Flucht und deren Folgen berichten können. So wie beispielsweise Bernhard Fey und die Sache mit dem Birkenkreuz, das – vielleicht drei oder vier Meter hoch – knapp außerhalb des ehemaligen US-Stützpunkts nur wenige Schritte entfernt von dem engmaschigen, einst mit Splittergeschossen gespickten Gitterzaun an der „Demarkationslinie“ steht. Wenn Fey hier seine schier unglaubliche Geschichte erzählt, spürt jeder nicht nur, wie eng dieses einfache Kreuz mit dem Leben des heute Mittsechzigers aus dem thüringischen Bermbach verknüpft , sondern im Grunde zu einem festen Teil eben dieses Lebens geworden ist.
Für tot erklärt und doch am Leben
Am 24. Dezember 1975 hatte sich der junge Bernhard mit einem Bekannten aufgemacht, aus der DDR zu fliehen. Es war bereits ein zweiter Anlauf. Zwei Jahre zuvor war er verraten und zu zwei Jahren Jugendhaft verurteilt worden. Dieses Mal sollte es klappen. Hofften die beiden Jugendlichen doch, an Weihnachten werde die Aufmerksamkeit der Grenzsoldaten vielleicht nicht ganz so hoch sein. Und tatsächlich schafften sie es, alle inneren Sperren und Gräben zu überwinden und unentdeckt bis an den letzten, den sogenannten Metallstreckzaun zu gelangen. Dann aber ging alles schief. Die Selbstschussanlage wurde ausgelöst und Fey von 15 Geschossen in die Beine getroffen. Amerikanische Soldaten, die den Vorfall hilflos beobachteten, meldeten damals, DDR-Grenzer hätten geraume Zeit nach der Detonation eine „offensichtlich leblose Person“ abtransportiert. Das in der Folge auf westliche Seite errichtete Kreuz enthielt keinen Namen; man wusste ja auch keinen.
Bernhard Fey jedoch – seitdem geh- und leicht beim Sprechen behindert – überlebte. Eines Tages, nach der Wiedervereinigung, las er in der Zeitung von einer Gedenkfeier am „Point Alpha“ für einen unbekannten Mann, der in der Weihnachtsnacht 1975 ums Leben gekommen sei. „Zunächst“, erzählt er, „glaubte ich an einen zeitlichen Zufall und bedauerte den armen Kerl, der sein Leben lassen musste, während ich nur schwer verletzt wurde“. Doch als man bei einem Besuch im Museum immer mehr Details abglich, blieb kein Zweifel mehr: „Ich sagte meinen Gesprächspartnern: ´Der Tote von dem Birkenkreuz – das bin ich`“. Seiner Bitte folgend, ließ man das Kreuz dennoch stehen – zur Erinnerung an alle Opfer von Stacheldraht und Mauer.
Die „Gedenkstätte Point Alpha. Haus an der Grenze“ ist geöffnet:
April bis Oktober tägl. 9 – 18 Uhr
November und März tägl. 10 – 17 Uhr
Dezember bis Februar Di. bis So. 10 – 16,30 Uhr
Sitz der Stiftung:
Platz der Deutschen Einheit
36419 Geisa
Tel: 06651 919030
e-mail: service@pointalpha.com
www. pointalpha.com
Dr. Ulrich Barnickel:
Auf den Bleichen 11
110 Schlitz
Tel: 06642 40033
e-mail: ubarni@online.de
www. urich-barnickel.de
Wegweiser:
Der Weg z. B. übger die Autobahn ist gut ausgeschildert auf der A 7 zwischen Fulda und Hünfeld sowie auf den Bundes- und Landstraßen von Hünfeld aus. Auch auf der thüringischen Seite sind Hinweisschilder angebracht, allerdings nicht so deutlich.
Ausflugsziele:
Fulda mit Dom, Eisenach mit Wartburg, Museumsdorf Thann i. d. Rhön, Geisa mit ehem. Jagdschloss der Fuldaer Bischöfe, Rasdorf mit größtem Wehrfriedhof Deutschlands.
Gedenkstätte und Museum Point Alpha/a