Von Günter Müchler

 

Autor Günter Müchler

Neun Monate nach Amtsantritt ist die rot-grün-gelbe Bundesregierung an vielen Fronten gefordert. Ukrainekrieg, Erderwärmung, Inflation und die Angst vor einem neuen Corona-Großangriff lesen sich wie eine Flammenschrift an der Wand, die selbst die bräsigsten Status-quo-Verteidiger erzittern lässt. Veränderung muss sein. Die Mehrfach-Krise hält die Koalition in Atem, schweißt sie aber auch zusammen.

Paradoxerweise ist das Nebeneinander von Baustellen politisch leichter zu bewältigen als ein Mono-Konflikt, an dem sich die Streitlust der Akteure voll entfalten kann. Ein weiterer unverhoffter Vorteil:  Bei anschwellendem Krisenbewusstsein und unter dem dramatischen Vorzeichen „Zeitenwende“ lässt sich geräuschfrei ideologischer Ballast abwerfen. Womit die Spitzen von SPD, Grünen und Liberalen momentan vorrangig beschäftigt sind. Aber die Sperrmüllentsorgung hat Grenzen: Irgendwann werden die Traditionskompanien der Ampelmitglieder aus ihrer Schockstarre erwachen und nicht mehr tatenlos zusehen, wie kanonische Glaubenssätze ohne Diskussion und Beschlusslage außer Kraft gesetzt werden.

Obwohl die Ampelregierung (und speziell Olaf Scholz) nach dem 24. Februar, dem Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine, durch miserable Außendarstellung immer wieder dem Verdacht deutscher Drückebergerei Nahrung gaben, war ihre Ukraine-Politik in der Sache besser und gradliniger als ihr Ruf. Gewiss hätten Waffen rascher geliefert werden können. Scholz gab lange den Mann, der zum Jagen getragen werden muss. Verbale Eiertänze (darf man sagen, dass Putin den Krieg verlieren muss?) hätte er sich sparen können.

Andererseits ist der Weg, den die Koalitionäre seit Ende Februar zurückgelegt haben, beachtlich. Die SPD kann ein Lied davon singen. Galt in der Partei noch vor Jahresfrist das Credo, die Welt werde von allen Gebresten genesen, wenn sie sich nur die Entspannungspolitik der deutschen Sozialdemokratie zu eigen mache, hat der Panzer missionarischer Selbstgewissheit mittlerweile deutlich erkennbare Sprünge bekommen. Die Putins dieser Welt beeindruckt man nicht, indem man Schwerter in Pflugscharen verwandelt. Inzwischen hat die Ukraine von Deutschland sieben Panzerhaubitzen erhalten; die Ausbildung ukrainischer Soldaten am modernen Mehrfachraketenwerfer „Mars II“ beginnt. Hatte man in Berlin zu Anfang noch geglaubt, man werde mit der Lieferung von Stahlhelmen davonkommen, erhält die Ukraine mittlerweile „die Waffen, die sie in der jetzigen Phase des Krieges braucht“ (Scholz).

Der Kanzler hat auch am persönlichen Auftritt gearbeitet. Er hat Kiew besucht, was überfällig war. Er hat ausgeschlossen, man könne demnächst mit Putin wieder ernsthaft zusammenarbeiten – ein Stoppschild für all diejenigen in den eigenen SPD-Reihen, die gebetsmühlenartig am Rezept des „Miteinander Redens“ festhalten und den Ukrainern tatsächlich eine Lösung wie München 1938 zumuten wollen. Scholz ließ es auch geschehen, dass der Parteivorsitzende, Lars Klingbeil, dieser Tage zu einer grundsätzlichen Neubestimmung von Deutschlands Rolle in der Weltpolitik anhub. Die Bundesrepublik müsse dem Anspruch einer „Führungsmacht“ gerecht werden, erklärte Klingbeil.  Vor ein paar Monaten wäre er dafür von den Parteilinken genauso gesteinigt worden wie zuvor Thilo Sarrazin für seine migrationspolitischen Thesen. Noch hüllen sich Saskia Esken, Kevin Kühnert und Rolf Mützenich in Schweigen. Konvertiert sind sie gewiss nicht.

Abwarten und sehen, wie sich alles sortiert. Nach diesem Motto verhalten sich auch viele im grünen Lager. Vor allem die zahlreichen jungen Abgeordneten, die es der Wahlerfolg im Herbst in den Bundestag geschwemmt hatte, sind irritiert. Sie waren nach Berlin gegangen in dem Hochgefühl, vier Jahre Klimapolitik de luxe machen zu können. Nun ist alles anders gekommen. Wirtschaftsminister Habeck, der grüne Frontmann, ist drauf und dran, zu einem Minister des nationalen Notstands zu werden. Nicht bloß, dass er der Aufrüstung der Bundeswehr ohne Wenn und Aber zustimmte. Um den Ausbau der Erneuerbaren Energien zu forcieren, ließ er bürgerliche Einspruchsmöglichkeiten verkürzen und den Tierschutz herabstufen – harte Schnitte ins grüne Wurzelwerk. Im Eilverfahren boxte Habeck LNG-Terminals durch, Häfen für Flüssiggas, in den Herkunftsländern generiert mit der umstrittenen Fracking-Methode, die in den grünen Verbotstafeln Gesetzestafeln noch weiter oben steht als Autofahren im benzinschluckenden SUV.

Das alles gelang Robert Habeck mit Hilfe der Tatsachenevidenz: Ohne Opfer bei Rotmilanen und Eidechsen keine Auflösung der Baublockade von Windrädern und Energietrassen. Ohne Flüssiggas kein Entkommen aus dem russischen Gaswürgegriff. Mit dem Kampf gegen die (von den Grünen nicht verschuldete, aber auch nicht verhinderte) Energieabhängigkeit von Putin rechtfertigt Habeck einen weiteren unerhörten Sündenfall: Ausgerechnet das Hochfahren der Braunkohle, die weithin als Klimakiller Nummer eins gilt, soll den absehbaren Engpass beim Gas wettmachen.  Natürlich wäre es vernünftiger, die verbliebenen drei aktiven Atommeiler noch für eine Weile am Netz zu lassen. Aber hier eben endet die Vernunft einer Partei, deren Gründungmythos in Brokdorf und Gorleben entstanden ist und den selbst ein Habeck als Noli me tangere zu achten hat. Hier gilt auch für ihn: bloß nicht anfassen!

Das weiß auch der FDP-Chef. Christian Lindner steht unter erheblichem Druck. Viel gelungen ist dem Einzelkämpfer der Liberalen seit dem letzten Herbst nicht. Die Torpedierung der Impfpflicht ist der FDP auch im bürgerlichen Lager nicht gut bekommen. Die Steuersenkung auf Kraftstoff war ordnungspolitisch zweifelhaft und faktisch ein Flop. In Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen ist die FDP nach schlechten Wahlergebnissen auf der Oppositionsbank gelandet. Umfragen auf Bundesebene sehen die Liberalen im einstelligen Bereich und damit in der Todeszone. Was tun? Lindners Anhang drängt, dem weiteren Wegreißen liberaler Ankerwerte im Krisenkatarakt etwas entgegenzusetzen. Die Forderungen nach Einhaltung der Schuldenbremse, nach Enttabuisierung der Kernkraft und Lebensverlängerung des Verbrennungsmotors werden lauter, aber auch verzweifelter.

Die Koalition im Juni 2020:  Jeder der drei Partner verspürt den wachsenden Verdruss der Basis. Es ist die Öko-Partei, die den Spagat zwischen Realismus und Grundsatztreue bisher noch am besten hinbekommen hat. Die Ampel steht einstweilen, vor allem dank Habecks überragender Kompetenz als Politikerklärer, auf grün.

Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.

 

 

- ANZEIGE -