Von Gisbert Kuhn

Gisbert Kuhn

Es wäre nicht verwunderlich, wenn Olaf Scholz des Nachts von Joe Biden heimgesucht würde. Im Traum natürlich. Oder genauer – in Alpträumen. Und immer derselbe Vorgang mit immer demselben Ende: Abserviert von der eigenen Gefolgschaft. Sicher, den amerikanischen Demokraten blieben nur wenige Monate bis zu den Präsidentschaftswahlen im November, um die Kandidatur-Reißleine zu ziehen und mit der Nominierung der bisherigen Vizepräsidentin  Kamara Harris den schon fast sicher erscheinenden zweiten Einzug des schillernden Donald Trump ins Washingtoner Weiße Haus am Potomac River vielleicht doch noch zu verhindern. Die deutschen Sozialdemokraten können sich dagegen noch fast ein Jahr lang die Köpfe zerbrechen, ob sie tatsächlich erneut mit Bundeskanzler Olaf Scholz als Frontmann im kommenden Herbst ins Ringen um möglichst viele Bundestagsmandate ziehen wollen.

Die Frage könnte allerdings auch lauten, ob Olaf Scholz das dann überhaupt noch will. Natürlich steht die SPD-Führungsriege um Parteichef Lars Klingbeil und Generalsekretär Kevin Kühnert auch nach den verheerenden Landtags-Wahlergebnissen in Thüringen und Sachsen scheinbar unverändert in Treue fest zu ihrem Obergenossen als deutschem Regierungschef. Dabei wissen selbstverständlich auch sie, dass das Unmuts-Gemurmel in den eigenen Reihen über und gegen Scholz bei weitem nicht erst nach dem Wahlfiasko eingesetzt hat. Die Massenflucht einstiger Wähler hat den ohnehin schon vorhandenen Unmut und die Zweifel an den Führungsqualitäten der Nummer 1 in der Berliner Ampel nur verstärkt.

Wobei die Strategen im Willy-Brandt-Haus natürlich am meisten schmerzt, dass zehntausende Thüringer und Sachsen nicht zögerten, ihre Kreuzchen ausgerechnet bei den politischen AfD-Rechtsaußen und der neuen, faktisch Ein-Personen-Bewegung namens Sahra Wagenknecht zu machen. Zu allem Überfluss präsentieren nun auch noch die Demoskopen die jüngsten Volksbefragungen, aus denen hervorgeht, dass immer mehr Leute (vor allem Genossen) die Nase voll von Scholz hätten und statt seiner lieber Verteidigungsminister Boris Pistorius, ja sogar Lars Klingbeil auf dem Kanzler-Stuhl sähen.

Unter normalen Umständen müsste eine Konstellation wie diese bei der parlamentarischen Opposition und deren Führung frenetischen Jubel auslösen. Bessere Voraussetzungen könnte man sich zur Erreichung seines Ziels, der christdemokratischen Wiedererringung der Regierungsmacht im Bund und in möglichst vielen Ländern, doch eigentlich kaum wünschen. Ja – eigentlich. Und in normalen Zeiten. Aber die Zeiten sind nicht „normal“ – nicht im herkömmlich gewohnten Sinne und faktisch schon gar nicht. Und mögen sich CDU-Chef Friedrich Merz und die Führungsriege der Unions-„Schwestern“ CDU und CSU insgeheim möglicherweise schon einigermaßen siegessicher mit Blick auf die Bundestagswahl in ziemlich genau einem Jahr gefühlt haben, so haben vor wenigen Tagen die Paukenschläge von Erfurt und Dresden mit Sicherheit diese Blütenträume zerstört.

Die Wählervoten in Thüringen und Sachsen zugunsten der rechtsradikalen, sich nicht selten aus dem nationalsozialistischen Sprach-Fundus bedienenden, „Alternative für Deutschland“ (AfD) und der jungen, merkwürdigen, Sammlungsbewegung der einstigen Grünen-Politikerin Sahra Wagenknecht haben nicht bloß „nur“ in zwei Bundesländern das gewohnte Parteiensystem gewaltig durcheinandergewirbelt, sondern besitzen eine direkte Auswirkung auf die politische Situation in Deutschland. Abgesehen von Kanzler Scholz, dessen traditions- und ruhmreiche Sozialdemokraten mittlerweile in der Wählergunst tief abgestürzt sind und mancherorts sogar ums Überleben kämpfen müssen, steht seit dem Landtagswahltag am 7. September auch dessen Herausforderer Merz vor der größten Herausforderung seines politischen Lebens.

Denn mit einem Male ist nicht mehr der Einzug ins Berliner Kanzleramt im Aufgaben-Fokus von Friedrich Merz. Der Vorsitzende der CDU (und wahrscheinliche gemeinsame Kanzlerkandidat von CDU und CSU) sieht sich vor nicht weniger als die Pflicht gestellt, ein Auseinanderbrechen der Union zu verhindern. Jener liberal-konservativen Partei also, die seit ihrer Gründung nach dem Krieg die meisten Regierungsjahre im Bund und in den Ländern aufzuweisen hat. Die Partei von Persönlichkeiten wie Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und Helmut Kohl, die zusammen mit anderen (nicht zu vergessen natürlich die Sozialdemokraten Willy Brandt und Helmut Schmidt oder die Freidemokraten Hans-Dietrich Genscher und Walter Scheel) maßgeblich erst West- und später das wiedervereinigte Deutschland in seine heutige politische und wirtschaftliche Position geführt haben.

Und dieses Deutschland braucht dringend Stabilität in Berlin ebenso wie in den 16 Bundesländern. Mögen andere Nationen, so etwa die gelasseneren Belgier, ein Jahr lang und mitunter sogar noch länger ganz gut „ohne oben“ leben können – bei den Bürgern in den regelverliebten und an Vorschriften gewöhnten Bürger in den Landstrichen zwischen den Meeren sowie zwischen Rhein und Oder bräche ohne regierende Ordnung vermutlich bald das Chaos aus. Genau dieses politische Ordnungssystem haben die Stimmbürger in Sachsen und Thüringen zerschlagen.

Allein kann, in der Folge der beiden Landtagswahlen, die CDU nicht regieren – weder in Dresden (obwohl dort weiterhin Nummer 1) noch in Erfurt (dort jedoch mit sogar 10 Prozentpunkten Rückstand hinter der AfD nur Nummer 2). Um den Ministerpräidenten stellen zu können, benötigt sie Koalitionspartner. In Sachsen reicht es sogar mit SPD, FDP und Grünen nicht, in Thüringen sind die Grünen nicht einmal mehr vorhanden. Blieben nur die aus der einstigen DDR-Staatspartei SED hervorgegangen Linken und die auf ziemlich hohe Wählerzahlen offensichtlich wie ein Magnet wirkende Sahra Wagenknecht mit ihrem „Bündnis“. Gegenüber den (möglicherweise vielfach nur noch Ex-)Kommunisten hat sich die Union noch zu Wendezeiten – also vor fast 35 Jahren   – mit einem „Unvereinbarkeitsbeschluss“ festgelegt: Keine Koalitionen oder auch nur Zusammenarbeit mit kommunistischen Linksaußen. Das Gleiche gilt im Verhältnis zur AfD, deren sächsische und thüringische Landesverbände vom Verfassungsschutz sogar als „gesichert rechtsextrem“ eingestuft werden.

Ein Dilemma für die Christdemokraten, für das sich keine Lösung anbietet. Zumindest keine, welche die Partei nicht in echte Existenzgefahren bringen würde. Das gilt für jeden Gedanken, es vielleicht doch einmal mit den Linken zu versuchen, zumal deren Frontmann – der aus Niedersachsen stammende Ex-SPD-Mann und Gewerkschafter Bodo Ramelow – sich während der vergangenen vier Jahre als Chef einer Minderheits-Koalition mit der SPD beträchtliches Ansehen erworben hat. Das gilt aber genauso für eine rapide anwachsende Zahl vor allem namhafter CDU-Repräsentanten hinsichtlich jeder Überlegung, ernsthaft mit Sahra Wagenknecht zu verhandeln. Tatsächlich ist die Ehefrau des früheren saarländischen Ministerpräsidenten und nachmaligen, kurzzeitigen SPD-Bundesvorsitzenden Oskar Lafontaine nicht nur Gründerin des ausschließlich nach ihr benannten „Bündnisses Vernunft und Gerechtigkeit“, sondern sozusagen auch dessen Herz, Seele und Blutkreislauf.

Friedrich Merz hatte zunächst (und zwar bereits vor dem Wahltermin am 7. September), ungeachtet aller beschlossenen „Unvereinbarkeiten“ und errichteten Brandmauern, den christdemokratischen Landesverbänden „freie Hand“ für mögliche Regierungs-Konstellationen gegeben. Dagegen läuft jetzt die innerparteiliche Opposition Sturm. Und die besteht nicht nur aus wichtigen Vertretern der CDU, sondern auch der bayerischen „Schwester“ CSU. Ihr gemeinsamer Haupteinwand gegenüber jeglicher Art von politischem Liebäugeln mit Linken oder der Wagenknecht-BSW käme für sie einem „Verrat aller Werte, für die wir als Partei stehen“.

Dieses Argument ist keineswegs an den Haaren herbeigezogen. Denn in Taat und Wahrheit ist es dem WSG – ausweislich seiner Programmatik und der Wahlkampfführung – weder in Thüringen, noch in Sachsen um Landesprobleme gegangen, sondern praktisch ausschließlich um außenpolitische Forderungen wie Austritt Deutschlands aus NATO und EU, Aufhebung der Sanktionen gegenüber Russland, Einstellung der Militärhilfe für die Ukraine, keine Stationierung von US-Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden als Antwort auf die Aufstellung ebensolcher russischer Flugkörper bei Kaliningrad usw. Also sämtlich Themen, für welche die Länder gar nicht zuständig sind. Lediglich hinsichtlich dem Verlangen nach einer anderen, schärferen Einwanderungspolitik und der Absage an jegliche Kooperation mit der AfD liegen Union und Wagenknecht relativ nahe beieinander. Tatsächlich deutet alles darauf hin, dass der Widerstand gegen jegliches Aufweichen bisheriger Abgrenzungen und alles Verwischen von „roten Linien“ oder gar eine partielle Beseitigung von „Brandmauern“ im CDU/CSU-Lager mit jedem Tag wächst.

So ist die Situation, vor der CDU-Chef Friedrich Merz aktuell steht. Und natürlich weiß er, dass – egal was und wie in Erfurt und Dresden entschieden werden wird – das Ergebnis keineswegs als ein regionaler Vorgang gesehen werden wird und auch keineswegs als nur als eine, notwendige, Regierungsbildung in zwei ostdeutschen Ländern, die nicht einmal zu den „großen“ in Deutschland zählen. Gleich ob, wie und mit wem die CDU sich – möglicherweise – einlassen sollte, würde Auswirkungen auf das politische Gefüge der Bundesrepublik als Ganzes haben – ja, vermutlich sogar Europas. Und zwar weit über die Grenzen der EU hinaus. In Deutschland wird gegen Ende September nächsten Jahres ein neuer Bundestag gewählt, der seinerseits die kommende Bundesregierung bestimmt. In Hinblick darauf ist es kaum übertrieben, aus den jüngsten zwei ostdeutschen Urnengängen und der bevorstehenden brandenburgischen Landtagswahl so eine Art „Richtung“ lesen zu können.

Richtungen nämlich, in die Deutschland in Zukunft steuern könnte. Verliert die Demokratie und das System Freiheit, Vielfältigkeit und Eigenverantwortung weiter an Zugkraft? Spielen internationale Verträge und Abmachungen oder Friedensordnungen in der heimischen Gemeinschaft vielleicht eine immer geringere Rolle? Strahlen autoritäre bis diktatorische Regime à la Wladimir Putin eine immer größere Attraktivität auf die Menschen auch bei uns aus? Wirkt am Ende bei uns jetzt schon die, vom russischen Geheimdienst ohne Zweifel handwerklich exzellent gemachte und mit gewaltigem finanziellen und technischen Aufwand betriebene, Propaganda in Printmedien und Internet? Schon jetzt klingt so manche politische Forderung aus AfD und BSW wie direkt bei „Russia Today“ abgeschrieben.

Bindende Antwort auf solche Fragen kann auch Friedrich Merz nicht geben. Aber von ihm in erster Linie wird es abhängen, welchen Weg (nach dem Absturz der SPD) die Union als damit einzig noch verbliebene, demokratische, Volkspartei und Bollwerk gegen einfachen Populismus und demokratiefeindliche Propaganda-Attacken einschlägt. In der innerparteilichen Opposition heißt es, Regieren sei „schließlich nicht Alles“. Und: Als Demokraten müssen man auch „treu und fest zu seinen Prinzipien stehen“. Beginnen die Brandmauern gegen Linksaußen und populistische Vereinfachungen zu bröckeln? Es gibt gewiss nicht Viele, die im Moment in der Haut des CDU-Vorsitzenden stecken möchten.

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel..

 

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