Von Günter Müchler

Günter Müchler

Einst wurden die Deutschen von ihren Nachbarn als Weltmeister in Arbeitsmoral bewundert oder belächelt. Von diesem Status ist nur noch die Hülle übrig. Denn tatsächIich wird in Deutschland immer weniger gearbeitet. Was ist passiert? Jahrzehntelang war das Wort „Sozialkrise“ gleichbedeutend mit zu wenig Arbeit für zu viele Menschen. Mittlerweile heißt die Geißel der Gegenwart zu viel Arbeit für zu wenige Menschen. Arbeitskräfte fehlen in der Pflege und in Krankenhäusern, in Schulen und Kindergärten. Um Handwerker wird konkurriert wie um reiche Bräute. Ausgerechnet in dieser Situation wirbt die SPD-Co-Vorsitzende Saskia Esken für die Einführung der Vier-Tage-Woche.

Esken hängt sich an einen Vorstoß der IG Metall. Die steht vor Tarifverhandlungen im November und braucht, nachdem die Kollegen von der ÖTV für ihren Bereich eine kaum zu toppende Lohnsteigerung durchgesetzt haben, für die eigene Kampagne eine zündende Überschrift. Auch Esken will mit einem öffentlichen Aufreger punkten. Die SPD, der sie gemeinsam mit Lars Klingbeil vorsitzt, hat Schwierigkeiten damit, sich in der Ampel-Regierung zwischen den Dauerstreithähnen Grüne und FDP gehörig sichtbar zu machen. Die Idee, mit Aplomb das Tor zu einem neuen Kapitel der Arbeitsbeziehungen aufzustoßen, verspricht Aufmerksamkeit und scheint zugleich geeignet, das etwas eingerostete Verhältnis der Sozialdemokratie zur Gewerkschaftsbewegung zu verbessern.

Auf Anhieb hat Esken mit ihrem Vorstoß kaum Beifall gefunden. Die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi äußerte sich unzuständig und wies auf die Einzelgewerkschaften. Der Kanzler hüllte sich in Schweigen. Zum Kommentieren schickte er Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) vor, der sogleich Wasser in den Wein der ausschenkenden Parteigenossin schüttete und vor einem „starren System“ warnte. Die kühle Zurückhaltung kam für Kenner nicht überraschend. Die Gewerkschaften bestehen darauf, dass die Art und Weise, wie die Arbeit in den Branchen organisiert wird, Sache der Tarifparteien ist.  Übergriffigkeit der Politik behagt ihnen nicht, auch wenn sie in hilfreichem Gewande daherkommt. Ausgerechnet die Ampelkoalition geht reichlich mutwillig mit der Tarifautonomie um – siehe das ständige Drehen am Mindestlohn.

Was Heil betrifft: Wie seine Vorgänger seit Norbert Blüm setzt der Arbeitsminister auf Flexibilität. Ihm ist klar, dass das deutsche Arbeitszeitgesetz eine Umschichtung des Arbeitsvolumens von fünf auf vier Tage überhaupt nicht zulässt. „Die werktägliche Arbeitszeit der Arbeitnehmer“, hält das Gesetz fest. „darf acht Stunden nicht überschreiten. Sie kann auf bis zu zehn Stunden nur verlängert werden, wenn innerhalb von sechs Kalendermonaten oder innerhalb von 24 Arbeitswochen im Durchschnitt acht Stunden werktäglich nicht überschritten werden“.

Zweifellos kennt auch Frau Esken die Barrieren des Arbeitsrechts. Doch mit solchen Kleinigkeiten gibt sie sich nicht ab. Locker behauptet sie, die Arbeitnehmer würden freudiger und effektiver ans Werk gehen, wüssten sie, dass schon am Donnerstag der Hammer fällt. Empirisch bewegt sie sich mit dieser Behauptung auf so dünnem Eis wie jene, die aus den Zwangsumständen der Corona-Zeit eine Tugend machen wollen und das Homeoffice als Quell einer Produktivitätssteigerung anpreisen.

Man wird Frau Esken und wohl auch der IG Metall nicht Unrecht tun, wenn man bezweifelt, dass es ihnen um Flexibilisierung, um das Wohl der Familien und um eine bessere „Work-Life-Balance“ zu tun ist. Worum ist wirklich geht, hat Esken in dem Nebensatz verpackt, natürlich müsse es bei der Umstellung einen Lohnausgleich geben. Das heißt, es geht um die Reduzierung des Arbeitspensums. Und zwar um eine, die nicht durch materiellen Verzicht kompensiert werden soll. Weniger arbeiten für das gleiche Geld – wer würde davon nicht träumen?

Aus dem Traum wird wohl so rasch nichts werden. Bei nüchterner Weltbetrachtung müsste mehr gearbeitet werden statt weniger. Hilfreich ist hier, wie so oft, die Verlängerung des Blicks nach hinten. In den achtziger Jahren gingen linke Kreise und selbsternannte Zukunftsforscher mit der Parole hausieren: „Der Arbeitsgesellschaft geht die Arbeit aus“. Wirklich stieg die Arbeitslosigkeit ab den neunziger Jahren kräftig an. 2005 erreichte sie mit 13 Prozent einen Höchststand. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder versuchte mit den Harz-Reformen dagegenzuhalten. Die Tragik seiner an sich richtigen „Agenda 2010“ bestand im krassen Ungleichgewicht von Angebot und Nachfrage, das damals den Arbeitsmarkt prägte. Viel zu vielen Arbeitslosen standen viel zu wenige offene Stellen gegenüber.

Aber sehr bald balancierten sich die Verhältnisse aus. Die Stellenangebote gingen kontinuierlich in die Höhe, die Arbeitslosenquote sank. Heute entfallen auf 2,5 Millionen Arbeitslose 1,8 Millionen offene Stellen, was in der Realität der Arbeitswelt bedeutet: Es mangelt nicht an Arbeit, sondern an Arbeitskräften. Die Entwicklung war abzusehen. Die Demographen haben sie schon lange sie vorhergesagt, nur leider zählt in Deutschland keine Wissenschaft so wenig wie die Bevölkerungswissenschaft.

Statt dem demographischen Sinkflug entgegenzuwirken, verschärfte die Bundesregierung 2014 die Dynamik durch die Einführung der Frührente mit 63. Die damalige Bundesarbeitsministerin und heutige Präsidentin der Bundesanstalt für Arbeit, Andrea Nahles, veranschlagte die Inanspruchnahme der absehbar teuren Reformmaßnahme auf 50 000 Fälle pro Jahr. Inzwischen geht fast jeder Dritte in die Frührente, 260 000 Personen pro Jahr. Axel Börsch-Supan, Direktor am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik, zollt der Nahles-Reform ein giftiges Lob: „Selten ist es so schnell gelungen, die Anzahl der Beschäftigten zu verändern – allerdings nach unten“.

Ihren Anteil an der dramatischen Fehlentwicklung hat auch die Zunahme der Teilzeitarbeit. Ohne Frage eröffnet Teilzeit vielen Paaren die Möglichkeit, das Nebeneinander von Beruf und Familie besser zu organisieren. Aber alle Boni des Angebots samt Freiheitsgewinn dürfen nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass Teilzeitarbeit den Arbeitskräfteschwund weiter beschleunigt. Nur noch zwei von drei Beschäftigten in Deutschland arbeiten Vollzeit. An vielen Schulen sind die Teilzeitlehrer in der Mehrheit. Verändert hat sich die Motivlage derer, die die Arbeitszeit verkürzen wollen. Nur jede zweite Frau, die weniger als Vollzeit arbeitet, hat ein Kind unter 18 Jahren. Teilzeit ist einfach en vogue.  Um die private „Work-Life-Balance“ besser steuern zu können, ist man sogar bereit, Einkommenseinbußen hinzunehmen.           

Die Politik tut sich schwer, Mittel zu finden, die die Grundbedürfnisse der Volkswirtschaft gegen die demographische Unausweichlichkeit und gegen die Zeitgeistströmung zu befriedigen. Die Rezepte, die Bundesarbeitsminister Hubertus Heil empfiehlt – höhere Frauenbeschäftigung und Einwanderung – sind kaum mehr als weiße Salbe. Dass Arbeitsmigration gefördert werden muss, ist politisch jenseits der AfD wohl Konsens. Genauso sicher ist, dass die Grenzen der Aufnahmefähigkeit von Einwanderern mittlerweile erreicht sind. Und was die Frauenerwerbstätigkeit angeht: Sie ist schon jetzt die dritthöchste in der EU.

Ein Fortschritt wäre bereits, wenn Politik und gesellschaftliche Institutionen – von Gewerkschaften bis zu Kirchen – damit aufhören würden, sich als Influencer eines neuen, angeblich selbstbestimmten Lebens zu betätigen. Arbeit besaß einmal eine anerkannte Dignität – eine Würde, die sich nicht in der Beschaffung des nötigen Lebensunterhalts erschöpfte. Man kann das Rad nicht zurückdrehen, schon den Versuch sollte man unterlassen. Der Mensch wird nicht zum Menschen erst durch Erwerbsarbeit. Umgekehrt macht es keinen Sinn, durch Handeln und öffentliches Reden nur noch das Lästige an der Berufsarbeit zu betonen und Arbeit bestenfalls als Sekundärtugend gelten zu lassen. Das wäre genauso verhängnisvoll wie Saskia Eskens Geisterfahrerei mit der Vier-Tage-Woche.

Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.

 

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