Von Gisbert Kuhn

Gisbert Kuhn

Die Nachrichtensendungen und Zeitungsspalten sind fast täglich voll davon. Für die einen Zeitgenossen droht eine Spaltung unserer Gesellschaft, für die anderen ist sie bereits erfolgt. Und zwar keineswegs nur einmal, sondern gleich in vielfacher Hinsicht. Wirtschafts- und finanzpolitisch zunehmend in arm und reich. Gesellschaftspolitisch in abnehmenden Gemeinsinn bei gleichzeitig explosionsartig wachsender Betonung von Einzel- oder Gruppeninteressen. Allgemeinpolitisch in eine nicht mehr zu übersehende Verrohung von Sprache und mitmenschlichem Verhalten, das sogar vor Gewalt gegen Rettungskräfte nicht mehr Halt macht. Und, nicht zuletzt, parteipolitisch mit abnehmendem Vertrauen in die Demokratie und deren Regeln und Vertreter sowie dem von vielen Deutschen nicht mehr für möglich gehaltenen Aufkommen und sichtbaren Erstarken rechtsnationalistischer, ja sogar faschistischer Kräfte.

Was ist los in Deutschland, das sich doch so gern rühmt, das “Land der Dichter und Denker“ zu sein, in dem Erfindergeist und Ordnung herrschen, in dem zwar nicht die Zitronen blühen, aber doch die Ideen und die Bereitschaft, mit Fleiß, Arbeit und Fantasie ein wohlhabendes und solidarisches Gemeinwesen zu schaffen? Es ist ja wahr – die Lage in und die Vorkommnisse auf der Welt sind nicht so, dass man sich in einer Idylle oder auf einer Insel der Glückseligkeit wähnen könnte. Die Ströme der Kriegsflüchtlinge und Hungernden aus den Kriegs- und Krisengebieten nach Europa (und dann besonders nach Deutschland), die zunehmenden, vor allem russischen und chinesischen, Cyber-Attacken auf lebenswichtige westliche Einrichtungen, die massenweise Verbreitung von Propagandalügen und noch vieles andere mehr sind wahrhaftig nicht geeignet, die Tage mit reiner Freude und bloßen Wohlgefühlen zu beginnen.

Alles zugegeben. Doch es reicht kaum als Erklärung dafür aus, dass erst soeben wieder seriöse Umfragen bei weit mehr als der Hälfte der Befragten einerseits „Angst vor Gegenwart und Zukunft“ im Allgemeinen ausgemacht haben, gleichzeitig aber auch wieder ein ebenso hohes Maß an Zufriedenheit mit den eigenen beruflichen wie familiären Umständen. Und so schlecht kann es mit dem Land wohl auch schwerlich bestellt sein, wenn praktisch jede Interessengruppe, Gewerkschaft oder Sozialvertretung ihre (zumeist ja durchaus gut begründete) Forderung an „die Politik“ mit Argument begründet, ein „so reicher Staat wie dieser“ müsse sich dieses und jenes doch schließlich leisten können. In früheren Jahren wurde dann in der Regel noch der Hinweis auf die „Friedensdividende“ nachgeschoben, die „der Staat“ schließlich seit Ende des Kalten Krieges nach 1990 kassiere und nun verteilen könne. Das, allerdings, taugt seit dem Überfall Putins auf die Ukraine als Begründung nicht mehr so recht.

Natürlich gibt es Probleme. Nicht bloß wirtschaftliche oder soziale. Die von Olaf Scholz beschworene Zeitenwende beschränkt sich keineswegs auf die in der Folge von Putins brutalem Überfall total veränderte Sicherheitslage. Da ist zum Beispiel noch die rasant voranschreitende Entwicklung auf dem Informationssektor. In welche Zukunft führt uns die so genannte Künstliche Intelligenz mit all ihren Möglichkeiten, aber auch Gefahren? Indes: Die meisten gesellschaftlichen Fehlentwicklungen hierzulande entsprangen doch nicht Putins imperialem Gehabe, dem Zusammenbruch nahezu jeglicher staatlichen und zivilisatorischen Ordnung in Nahost oder der unerträglichen Hungersnot in Afrika und Teilen Asiens. Das begann bei uns schon sehr viel früher.

Die Rede ist von jener im Grunde nicht mehr hinnehmbaren Verrohung erheblicher Teile der Bevölkerung. Beginnend mit der Sprache und nicht selten endend mit Gewalt. Es geht um mehr als bedenkliche Hinwendungen selbst bürgerlicher Kreise zu rechtsextremem Denken, was sich immer öfter Bahn bricht in an die SA erinnernden – unbehinderten! – Aufmärschen glatzköpfiger Parolen-Grölern in Eisen beschlagenen Springerstiefeln in diversen deutschen Städten. Es geht darum, dass „der Staat“ in seiner Eigenschaft als Bund, Ländern oder auch Kommunen in einer falsch verstandenen Liberalität und Toleranz Migranten nicht sofort und unmissverständlich nahebrachte, dass in Deutschland allein das Grundgesetz und die darin verankerten Werte Geltung besitzen – auch und besonders dann, wenn man einem anderen Kultur- und Religionskreis entstammt. Es geht aber genauso darum, den eigenen – also eingesessenen – Mitbürgern einen Spiegel vorzuhalten, der zeigt, wie sehr in den vergangenen Jahrzehnten das verloren gegangen ist, was einmal Anstand, Benehmen, Höflichkeit und Rücksichtnahme genannt wurde. Gewiss, des klingt altmodisch. Aber in der kurzen großmütterlichen Mahnung „Das tut man, und das tut man nicht“ war eigentlich all das enthalten, was so manchen „modernen“ Erziehungsmaximen von Generationen verloren ging, die in Ungezogenheit, Egoismus oder Impertinenz etwa Selbstentfaltung sowie Charakter- oder Persönlichkeitsbildung sehen wollen.

Wer das nicht glaubt, könnte sich ja einmal den Spaß machen, beim Betreten des Bäckerladens oder einer Arztpraxis laut und deutlich mit „Guten Tag“ zu grüßen. Wetten dass die Reaktionen dann in der Regel von Zusammenzucken und leise gemurmeltem „Hallo“ (weil man außer „Hallo“ keinen anderen Gruß mehr gelernt hat) bis zu verständnislosen Blicken reichen! Natürlich ist das ein harmloser Vorgang. Nicht jedoch das Erlebnis, das einem älteren Radfahrer widerfuhr, dem eine Gruppe jugendlicher Radler entgegenkam und nicht im Traum daran dachte, ein wenig Platz zu machen. Antwort auf die Vorhaltung des Mannes: „Verpiss Dich, Alter“! Deutschland, zivilisiertes Vaterland? Die Angriffe in Berlin während der Silvester-Krawalle gegen Polizei, Feuerwehr und Rettungskräfte, die Gaffer und Sensationslüsternen bei Unfällen auf der Autobahn – nein, es sind nicht nur die angeblich perspektivlosen schulischen Abbrecher. Die Ungezogenheit und Respektlosigkeit hat längst alle Bevölkerungskreise erreicht. Und verantwortlich dafür sind auch nicht Handy, Internet und Facebook. Diese dienen allenfalls als Brandbeschleuniger. Hingegen liegt es an jedem Einzelnen, ob er – ohne nachzudenken – hinter populistischen politischen mainstreams herläuft und Respektlosigkeit als Mut missdeutet.

„Man müsste“, heißt es nicht bloß an Stammtischen, sondern durchaus auch in klugen Kommentarspalten von Zeitungen, gegen gesellschaftliche Fehlentwicklungen „etwas unternehmen“. Ja, wunderbar! Aber, wer ist „man“? Gespräche mit Lehrern – gleichgültig, ob Grundschul- oder Gymnasiallehrer – fördern zumeist Unglaubliches zutage. Nicht nur über den baulichen Zustand ihrer Schulen. Die Pädagogen sind eigentliche ausgebildet, um ihren Schülern etwas beizubringen. Dass dies mitunter schon daran scheitern muss, dass viele (Migranten)Kinder(aber nicht nur die) nicht, kaum oder nur wenig deutsch verstehen, ist schon ein Riesenproblem. Dass ihnen (also den Lehrern) jedoch von vielen Eltern auch noch Erziehungsaufgaben zugeschoben wurden und werden, ist unverantwortlich.

Und dann kommt das Problem mobbing an den Schulen noch dazu. Ein Vorgang, der nicht selten die Grenze zu kriminellem Verhalten überschreitet. Von Schülern gegenüber Schülern, also Jugendlichen gegenüber anderen Jugendlichen. Jede Schulleitung weiß, dass so etwas auch an ihrer Anstalt vorkommt, doch keineswegs überall stellt man sich der Herausforderung. Selbst (und vielleicht besonders) nicht an mancher sogenannten Elite-Schule. Der Rektor, bzw. die Rektorin (und mit ihnen Manche aus dem Kollegium) fürchten mehr um „den Ruf“ der Schule als um das Schicksal ihrer Zöglinge. Wird da nicht schon Bahn geschaffen für ein Rüpeltum, das später ein friedliches, gedeihliches Zusammenleben nur noch schwer zulässt? Und zwar keineswegs allein im zwischenmenschlichen Bereich, sondern auch im politischen.

Es sind ja nicht nur die ins politische Rechtsaußen wachsenden Kräfte hierzulande, welche die Sorge wachsen lassen, irgendwann werde vielleicht wieder der Ruf nach einem „starken“ Mann ertönen, weil man die parlamentarischen „Quasselbuden“ satt habe. Ein Blick rings um uns in Europa herum bereitet ebenfalls Unbehagen. Rechtsrucke und Beschneidungen zahlreicher bürgerlicher Errungenschaften zum Beispiel in Ungarn, in Polen, in Schweden, Spanien und Italien. Das Europäische Einigungswerk, das mit Abstand Beste, was die „alten weißen Männer“ auf diesem von Kriegen zerschundenen Kontinent geschaffen haben, gerät mehr und mehr in Misskredit. Dabei müsste doch eigentlich Jedem klar sein, dass nur ein vereintes Europa Giganten wie China, Russland oder auch den USA Paroli bieten könnte. Stattdessen hat es den Anschein, dass zunehmend Faszination von Diktaturen ausgeht, die auf Menschenrechte pfeifen und die (wie Wladimir Putin) völkerrechtlich gültige Verträge mit einer Handbewegung vom Tisch wischt.

Ist das Schwarzseherei, Defätismus, Kassandra? Nein, das ist es nicht. Zumal es sich bei den geschilderten Missständen nicht um gesellschaftliche Mehrheiten handelt. Aber Mehrheiten sind in der Geschichte immer wieder von gut organisierten, vernetzten und – vor allem – von sich sowie ihrem Denken und Tun überzeugten Minderheiten majorisiert worden. Daher „Wehret den Anfängen“, haben wir von den Römern gelernt, denn „Bedenket das Ende“.

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.

 

 

 

 

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