Von Gisbert Kuhn

Autor Gisbert Kuhn

Angst, versuchte (der von seiner Partei sehr viel später fast mit einem Heiligenschein umgebene) Helmut Schmidt während seiner Kanzlerschaft mehr als einmal den SPD-Genossen einzuimpfen, sei „ein schlechter Ratgeber“. Vergebens. Es war während der 70-er und 80-er Jahre in der hektischen Zeit der Auseinandersetzungen um die so genannte NATO-Nachrüstung mit atomar bestückten Mittelstreckenraketen. Nicht nur auf dem Bonner Hofgarten demonstrierten Hunderttausende gegen die Absicht des westlichen Bündnisses, der nuklearen Hochrüstung der Sowjetunion und des damaligen Warschauer Paktes etwas Gleichwertiges entgegenzustellen, um damit eine beidseitig „disziplinierende“ – also den Frieden erhaltende – Balance des Schreckens zu installieren. Fast überall im Westen, besonders aber in der seinerzeitigen Bundesrepublik, waren die Straßen und Plätze voll von Menschen, die ihrer Angst vor dem angeblich drohenden strahlenden Inferno lauthals Luft machten.

Ein in jenen Tagen beliebter Slogan lautete: „Lieber rot als tot“. Pfarrer beider Konfessionen griffen ihn auf und verbreiteten ihn von den Kanzeln, in weiße Berufskittel gekleidete „Ärzte gegen den Atomtod“ trugen ihn bei Demos plakativ vor sich her, Literaten, Journalisten und andere Intellektuelle beschworen wortgewaltig das alles überwölbende Gut des Vermeidens von Krieg. Da verhallten Mahnungen wie die des früheren amerikanischen Außenministers Henry Kissinger oder dessen nachmaligem polnischen Kollegen Wladyslaw Bartoszewsk weitgehend ungehört, wonach es keinen Frieden ohne Freiheit geben könne. Nicht zufällig sprach der einst vor den Nazis verfolgte Historiker Fritz Stern von einem „Zeitalter der Angst“. Auch Helmut Schmidt stieß großenteils auf taube Ohren. Mehr noch, seine eigene Partei, die SPD, lief ihm scharenweise davon – im Bundestag und auch draußen im Lande.

Geschichte wiederholt sich, bekanntlich, nicht als direkte Blaupause früherer Geschehnisse. Aber sie weist doch häufig verblüffende Ähnlichkeiten auf. Und dabei spielt die Angst eine nicht zu unterschätzende Rolle. Genauer: Der Einsatz dieses Begriffs (zum Beispiel die Drohung mit Gewalt) zur Durchsetzung eigener Ziele, sowie der Umgang mit diesem Phänomen. Angst ist, zunächst einmal, ja etwas ganz normal Menschliches. Es ist ein Gefühl, das jeden von  uns zur Vorsicht mahnt, vor Leichtsinn oder Gefahren warnt. Damit hat Angst eine positive Schutzfunktion. Aber sie kann auch das Gegenteil bewirken. Angst kann lähmen, weil die Furcht vor möglichen Konsequenzen den Willen und die Fähigkeit zu eigenen Entscheidungen blockiert.

Ist Deutschland, sind die Deutschen besonders empfänglich für solche Bangigkeit? Neigt unsere Gesellschaft, mehr als andere das tun, zu Kleinmut und Zaghaftigkeit? In den Staaten ringsum kursiert seit langem schon der Begriff „German Angst“. Und tatsächlich zeigen Vorgänge in der Vergangenheit, dass sich die Menschen hierzulande keineswegs nur bei unbestreitbar ernst zu nehmenden Geschehnissen (wie etwa der oben erwähnten „Nachrüstung“) mit beinahe raketenhafter Rasanz bereit sind, sich in geradezu panische Ängste zu versetzen. Als Beispiel sei die Volkszählung von 1987 erwähnt, bei der sich die damalige Bundesregierung eigentlich nur einen Überblick über die Lebens- und Wohnverhältnisse im Land verschaffen wollte. Wieder einmal aber waren seinerzeit der Bonner Hofgarten und ungezählte andere Plätze zwischen Flensburg und Konstanz überfüllt mit Leuten, die schreckensbleich den „Gläsernen Mensch“ und den „Totalen Überwachungsstaat“ skandierten. Erstaunlicherweise allerdings brachen die Aufmärsche und Angstbekundungen immer genauso schnell zusammen wie sie entstanden waren.

Natürlich kennt die Psychologie schon lange das Phänomen, dass der Faktor Angst – dieser menschlicher Grundinstinkt, also – in mancherlei Hinsicht durchaus strategisch eingesetzt werden kann. Und zwar nach außen wie auch mit den Blick auf die Binnenwirkung. Seit der deutschen Vereinigung weiß man aufgrund der entsprechenden Stasi-Dokumente, wie sehr die DDR Regie geführt hatte bei den Protesten im Westen. Jetzt erleben wir dasselbe im Zusammenhang mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine – sogar noch offener, unverhüllter und massiver. Mit dem drastischen Vorgehen gegen jede Art Oppositioneller im Lande, dem Massenverhaftungen und Verurteilungen, ließ Wladimir Putin im Inland Angst und Schrecken verbreiten und selbst den leisesten Protest verstummen. Und nach außen posaunen er, sein Außenminister Lawrow und die russischen Staatsmedien tagtäglich volle Breitseiten in die Welt, die inhaltlich identisch sind mit den Drohungen früherer Jahrzehnte. Man schwingt in Moskau die nukleare Keule, um die westlichen Staaten und – vor allem – deren Bürger einzuschüchtern und von ihrer Unterstützung des überfallenen Landes abzubringen.

Mit Erfolg? Ganz sicher nicht, wenn man die hiesigen Reaktionen mit jenen aus den Zeiten der „Nachrüstung“ vergleicht. Dennoch ist zu erkennen, dass der Boden nach wie vor fruchtbar ist, um die Saat der Angst (oder wenigstens der Ängstlichkeit) aufgehen zu lassen. Ein Beispiel dafür ist der kürzlich verbreitete offene Brief von 28 deutschen Prominenten aller Sparten, in dem nachdrücklich das Ende der Kämpfe und des Sterbens in der Ukraine verlangt wird. Diesem Appell haben sich mittlerweile viele Tausende im Lande angeschlossen. Das ist sehr nachvollziehbar. Wer würde schließlich nicht den Stopp dieses sinnlosen Zerstörens und grausamen Mordens wollen? Nur: In dem Brief werden allein die Feuereinstellung und Frieden gefordert. Ohne jede Bedingung. Auch nicht Freiheit. Also bedingungslose Kapitulation.

Womit wir zurück beim Anfang wären. Steht der Friede wirklich über allem? Auch über der Freiheit und der Selbstbestimmung über das eigene Leben? Wieder einmal „lieber tot als rot“? Ganz offensichtlich sieht das zumindest der ganz überwiegende Teil der ukrainischen Bevölkerung anders als manche, erneut von Angst erfasste Bürger in ihrer heimischen Sicherheit.

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.

- ANZEIGE -