Von Wolfgang Bergsdorf

Wolfgang Bergsdorf

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat in einer bemerkenswerten Rede die Zeitenwende in Erinnerung gerufen, in die ganz Europa durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine am 24. Februar dieses gestürzt wurde. Das Staatsoberhaupt wurde dafür – parteiübergreifend – vor allem deshalb gelobt, weil es die Konsequenzen dieser Aggression für die Europäer sehr konkret benannt und diese zur Solidarität mit den Ukrainern aufgefordert hat. Und zwar um unseretwegen selbst. Denn Putin attackiert den Wertekanon des Westens, die individuellen und gemeinschaftlichen Freiheitsrechte und ihre politischen Formen, die Demokratie in allen ihren unterschiedlichen Fassungen. Er stellt den Krieg als einen Wertekonflikt zwischen der angeblichen Dekadenz des Westens und den traditionellen Werten Russlands dar, in der Familie, Kirche und Staat dem Einzelnen Orientierung verschafften. Und er führt Krieg gegen die ukrainische Kultur.

Ob Putin dies tatsächlich glaubt, weiß alleine er selbst. Aber das alles, was nach freiheitlichen Lebensformen strebt, eine Bedrohung seiner Herrschaft ist, das weiß er gewiss. Die Putin´sche Propaganda behauptet, der im Westen dominante radikale Liberalismus strebe danach, den Menschen in seiner bisherigen Gestalt zu vernichten und durch ein programmierbares Mischwesen aus Mensch und Technik zu ersetzen. Die Experimente zur massenhaften Bearbeitung der Gehirne beim Thema sexuelle Orientierung sei ein erster Schritt hierzu. In seiner Rede zur Annexion ukrainischer Gebiete sagte Putin: „Die Diktatur der westlichen Eliten ist gegen alle Gesellschaften gerichtet, darunter gegen die Völker der westlichen Länder selbst. Eine so vollständige Verneinung des Menschen, der Sturz des Glaubens und der traditionellen Werte, die Unterdrückung der Freiheit, nimmt Züge einer umgedrehten Religion an – das ist offener Satanismus. Doch immer mehr Menschen sehen schon die vergifteten Früchte dieser Politik.“ An anderer Stelle seiner Rede attackiert der Kreml-Chef den angeblichen Neokolonialismus des Westens mit Worten, die seine eigene Motivation offenlegen: der Westen wolle zur Erhaltung seiner Macht alle Unterschiede zwischen den Völkern einebnen und deren eigenständige Kultur auslöschen.

Worum es Putin trotz gegenteiliger Behauptungen nicht geht, das sind die traditionellen Werte, die im russischen Alltag keine große Rolle spielen. Große Teile der russischen Eliten pflegen einen extrem hedonistischen Lebensstil. Bei der Abtreibungsquote und bei der Scheidungsrate bricht die Russische Föderation im internationalen Vergleich alle Rekorde. Zwischen der Lebensweise der politischen und wirtschaftlichen Eliten in Russland und den breiten Massen herrscht eine Kluft, die tiefer ist als in jedem anderen europäischen Land.

Diese Diskrepanz im Lebensstandard und auch die frühere Putin-Rede von den Brudervölkern der Russen und Ukrainer machen die Kriegsgründe so schwer verständlich. Der Aggressor Russland erlebt auf seinem Territorium keine Bomben, beschießt aber das Opfer Ukraine tagtäglich aus allen Rohren, um vor allem die Infrastruktur zu zerstören und damit der Bevölkerung die Lebensgrundlage zu nehmen. Die Ruchlosigkeit der russischen Aggression wird gerade in diesen Tagen wieder einmal für jedermann erkennbar, in denen Russland durch den Ausstieg aus dem Weizenabkommen die Ärmsten der Armen in der Welt mit der Hungerwaffe bedroht.

Selbst nach seinem Einlenken beim angedrohten Stopp ukrainischer Weizenlieferungen über das Schwarze Meer legte er großen Wert auf die Feststellung, dass Russland jederzeit wieder aus dem Abkommen aussteigen könne. Bei so viel besinnungsloser Aggressivität der politischen Führung ist es kein Wunder, dass die russischen Soldaten bei dieser militärischen „Spezialoperation“ keine große Kampfbereitschaft zeigen. Dieser Motivationsmangel wiederum ist einer der Gründe für die hohen Verluste Russlands in diesem Krieg. Dagegen wissen die Ukrainer, was für sie auf dem Spiel steht – die Fortexistenz ihrer Nation und ihrer Kultur.

Die Zerstörung der ukrainischen Städte und Dörfer durch russische Bomben, Raketen und aus dem Iran stammende Drohnen bewirkt nicht nur Tod und Verstümmelung ungezählter Zivilisten, sondern erschüttert auch die Grundlagen der ukrainischen Kultur. Diese ist mehrsprachig, multikonfessionell und bietet ein breites Spektrum an ideologischen Präferenzen und politischen Positionen. Genau das macht sie den Augen der russischen Aggression so verdächtig. Seit Kriegsbeginn sind hunderte von Kulturstätten vollständig oder teilweise zerstört worden. Dieses Schicksal erlitten mindestens 180 Kirchen, darunter so bedeutende wie die Kirche des Evangelisten Johannes in Iwaniwka, die Makarius-Kirche in Toresz- und die Georgskirche in Jasnohirka. Zusätzlich sind 36 Museen vollständig oder teilweise zerstört und oft geplündert. Das gleiche gilt für etliche Theater, unter denen das von Mariupol mit seinen hunderten Toten eine traurige Berühmtheit erlangte. In dem Museum von Mariupol wurden 20.000 Kunstwerke zerstört und eine handgeschriebene Thora-Rolle sowie ein wertvolles Evangeliar geraubt.

Die russische Führung scheint besonders ukrainische Geistesgrößen in ihr zerstörerisches Visier zu nehmen. Das Museum für den ukrainischen Philosophen Grigori Skoworoda in einem Dorf in der Nähe von Charkiw wurde gezielt von Flugzeugen aus mit Raketen beschossen. Die Ukraine begeht in diesem Jahr dessen 300. Geburtstag. Ebenso beschossen wurde das Museum für die Malerin Marija Prymatschenko in Ivankiv. Glücklicherweise wurden ihre Bilder gerettet, das Gebäude aber ist zerstört.

Aus Melitopol in der Süd-Ukraine wird die Plünderung des Museums für Lokalgeschichte gemeldet, darunter auch ein Goldschatz des Skythen, der 198 Stücke umfasste. Glücklicherweise waren weitere wertvolle Skythen-Kunstgegenstände 2014, kurz vor der russischen Annexion der Krim, an das Allard Pierson Museum in Amsterdam ausgeliehen worden. Die Ausstellung „Die Krim: Gold und Geheimnisse des Schwarzen Meeres“ sorgte für einen internationalen Skandal, weil die Russische Föderation die Herausgabe der Exponate verlangte. Die niederländischen Gerichte entschieden jedoch, dass die Objekte der Sammlungen der Krim-Museen an die Ukraine zurückzugeben seien. Die Russen planen, die Museen auf der Krim zu „evakuieren“ und auch die Kunstschätze der anderen annektierten Gebiete nach Russland zu verlagern. Zu Recht beklagt das ukrainische Kulturministerium diese Aktionen als eklatante Verletzungen des Haager Abkommens zum Schutze von Kulturgütern in kriegerischen Konflikten.

Die archäologischen Sammlungen auf der Krim sind überaus reich. Zu den wichtigsten gehört das Staatliche Museum Cherson und das Archäologische Historische Museum von Kertsch mit dem Goldschatz und einer wertvollen Sammlung antiker Schmuckstücke und Münzen. Allerdings weiß niemand, was heute noch an Exponaten in den Museen auf der Krim verfügbar ist. Denn im vergangenen Jahr ist ein ehemaliges Mitglied des ukrainischen Parlaments, der Chef des Ministerkabinetts der Autonomen Republik Krim war, aus Kiew nach Russland geflüchtet. Er wurde der Kollaboration bezichtigt und des Hochverrats angeklagt. Bei einer Razzia in seinem Büro fanden die Behörden eine beeindruckende und kostbare Sammlung von insgesamt 6000 archäologischen Glanzstücken. Sie umfasste neolithische, skythische, altgriechische und byzantinische Keramiken, Waffen, Schmuckstücke und Münzen. Darunter waren allein 240 skythische Schwerter. Zum Vergleich: im Ukrainische Nationalmuseum in Kiew finden sich nur 100 dieser Waffen des antiken Reitervolkes. Die meisten dieser Objekte waren aus den Museen der Krim gestohlen worden – vermutlich nach ihrer Annexion durch Russland.

Die russischen Invasionstruppen begnügen sich nicht mit der Zerstörung von Kultureinrichtungen und dem Raub oder Diebstahl von Gegenständen des kulturellen Erbes der Ukrainer. Sie scheuen sich auch nicht davor, kulturelle Leitfiguren zu ermorden, wenn sie sich nicht zur Kollaboration mit den Besatzern bereit erklären. Dies geschah dem Dirigenten Juri Kerpatenko, der seit 2004 das Mykola-Kulisch-Musiktheater von Cherson als Chefdirigent leitete. Der 46 Jahre alte Musiker war wie viele Ost-Ukrainer russisch-sprachlich, bekannte sich zur russischen Kultur, wollte aber nichts mit dem heutigen Russland zu tun haben, das er als ein KZ bezeichnete.

Die mittlerweile von zwei Kollaborateuren geleitete Philharmonie im von Russen besetzten Cherson wollten zum Weltmusiktag am 1. Oktober ein Konzert mit Beteiligung des Kammerorchesters von Kerpatenko organisieren, um Normalität des Konzertbetriebes zu simulieren. Doch der Chefdirigent verweigerte die Beteiligung und wollte auch nicht die Stadt verlassen. Der russische Geheimdienst ließ dies nicht auf sich beruhen. Seine Agenten versprachen, den Dirigenten zu Hause aufzusuchen. Als er ihnen nicht öffnete, erschossen sie ihn durch die Haustür.

Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf (Jahrgang 1941) ist nicht nur Politologe, sondern war, unter anderem als Mitglied von Helmut Kohls so genanntem „Küchenkabinet“, jahrelang selbst aktiv am politischen Geschehen beteiligt.  Zudem war Bergsdorf in der Regierungszeit Kohls Leiter der Inlandsabteilung des Bundespresseamtes und anschließend Chef der Kulturabteilung des Bundesinnenministeriums. 1987 war er zum außerplanmäßigen Professor für Politische Wissenschaften an der Bonner Universität ernannt worden. Von 2000 bis 2007 amtierte er als Präsident der Universität Erfurt.

 

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