Angemerkt: Angst, Faszination, Blauäugigkeit
Von Gisbert Kuhn

Ein Blick in die Geschichte lohnt immer, wenn man aktuelle Probleme in den Blick nehmen oder sie im Griff behalten will. So hielt, beispielsweise, am 27. Juli 1900 – vor also etwas mehr als 122 Jahren – der deutsche Kaiser Wilhelm II. in Bremerhaven die berühmt-berüchtigte „Hunnenrede“. Der für rhetorische Zurückhaltung nicht gerade bekannte Imperator verabschiedete seinerzeit das knapp 1000 Soldaten umfassende deutsche Kontingent an dem von insgesamt 8 Ländern gebildeten Expeditionskorps, das später den so genannten Boxer-Aufstand niederschlug. Nach Angaben von Teilnehmern sagte „Willem Zwo“ damals: „Kommt ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht gegeben, Gefangene werden nicht gemacht! Wie vor 1000 Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht haben, der sie noch jetzt in Überlieferungen und Märchen gewaltig erschienen lässt, so möge der Name Deutscher in China durch euch in einer Weise bestätigt werden, dass es niemals wieder ein Chinese wagen wird, einen Deutschen scheel anzusehen“.
Wie gesagt – das war vor etwas über 100 Jahren. Und heute? Vergleichbare Äußerungen wie die des damaligen deutschen Kaisers sind zwar von keinem Politiker aus dem „Reich der Mitte bekannt. Doch ist es wohl kaum übertrieben zu behaupten, dass sich mittlerweile die Situation radikal umgekehrt hat – dass sich nämlich (nach einem Jahrhundert mit zwei verheerenden Weltkriegen) nicht nur kein Deutscher, sondern überhaupt niemand aus den seinerzeitigen Expeditions-Ländern (und darüber hinaus) trauen würde, einen Chinesen scheel anzusehen. Das vor gar nicht so langer Zeit in einem beinahe erbärmlichen Zustand befindliche China ist auf dem Weg, eine Weltmacht zu werden. 1969 noch war der damalige Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger lauthals verspottet worden, als er bei der Wahlkampferöffnung der CDU in Dortmund warnend rief: „Ich sage nur China, China, China“. Bei ihm klang es „Kina, Kina, Kina“. Und, obwohl in großen Teilen des rund 1,5-Milliarden-Seelen-Riesenreichs die Bevölkerung auch jetzt noch immer in schier unglaublich miserablen Verhältnissen dahinvegetiert, verfolgt die autoritäre kommunistische Staatsführung unbeirrt und ohne Rücksicht auf Verluste das (immer offen bekannte!) Ziel, bis 2030 die Nummer 1 in der Welt zu werden – wirtschaftlich, politisch und militärisch.
Jahrelang ist (nicht allein, aber auch) nicht nur hierzulande dieses Projekt Pekings übersehen, negiert oder bewusst beiseitegeschoben worden. Von der Politik wie von der Wirtschaft. Wandel durch Handel (und damit den globalen Frieden) erträumte man sich in den Hauptstädten, saftige Gewinne in den Zentralen der Konzerne und weltweit agierenden Mittelständler. Jetzt, nach Jahrzehnten immer engerer Verflechtungen und vor allem unter dem Schock des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und der damit zusammenhängenden Energie-Knappheit, ist bei uns mit einem Mal ins Bewusstsein geraten, wie sehr man sich bereits in die Abhängigkeit von politisch unberechenbaren Mächten und Mächtigen begeben hat. Nun sind Klage und Jammer groß. Bisher war jeder Kauf und jede Investition bejubelt worden, die russische oder chinesische Staatsunternehmen in Deutschland tätigten. Als Beispiele mögen der Erwerb wichtiger deutscher Gasspeicher durch Putins GASPROM und (ursprünglich) des Augsburger Roboter-Herstellers KuKa durch den chinesischen Waschmaschinen- und Klima-Automaten-Bauers Midea gelten.
Besonders der Vorgang um KuKa ist geradezu ein Lehrbeispiel für – ja, für was eigentlich? Für die Blauäugigkeit gegenüber Pekings wahren Interessen und Absichten? Für die Dummheit in Anbetracht politischer Machtansprüche Chinas? Oder ganz einfach nur für die blanke Gier von Wirtschaftsführern, wenn mit Geldbündeln gewunken wird? Kuka ist (und war) eigentlich nur ein „Mittelständler“. Aber auf seinem, hochspezialisierten, Gebiet mit Abstand Weltmarkführer. Kein Wunder, dass man das Unternehmen gern als „Sahnestück der deutschen Wirtschaft“ pries. Aber dann wurden dem damaligen Mehrheitseigner – dem Heidenheimer Maschinen-Hersteller Voigt – von Midea rund 2,1 Milliarden Euro unter die Nase gehalten für eine 95-prozentige Übernahme. Sigmar Gabriel (SPD), der seinerzeitige Bundeswirtschaftsminister, wollte den Deal Hightech gegen Moneten noch verhindern. Doch als er sich im Kreis möglicher deutscher Käufer umsah, rührte keiner der hiesigen Wirtschaftskapitäne auch nur einen Finger. Inzwischen hat sich Midea auch der letzten Kleinaktionäre entledigt und ganz allein das Sagen.
Immerhin hatte dieser Vorgang erstmals überhaupt so etwas wie Bewusstsein geschaffen für die wirtschaftlichen Abhängigkeiten von außen, in die sich Deutschland über die Jahre begeben hat. Dazu noch das böse Erwachen nach dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, als plötzlich bei uns das Gas knapp und die Energie sprunghaft teurer wurde. Friedensdividende, ewiger Frieden, Handel durch Wandel, billiges Gas – alle Warnungen aus dem In- und Ausland vor wachsender politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit unseres prosperierenden Staates verhallten ungehört. Auch beim Publikum. Und so mancher kluge Leitartikler und Radio- oder TV-Kommentator täte gut daran, noch einmal seine Ergüsse von vor fünf oder zehn Jahren zu lesen, bevor er oder sie jetzt erneut empört zur Feder greift. Die EU, die USA, Polen und die Baltischen Staaten rieten dringend von den Gasleitungen durch die Ostsee ab? Was geht denn die das an, rauschte – digital und analog – die entrüstete heimisch-mediale Antwort zurück. Es ist unsere Sache, unsere Wirtschaft zu steuern!
Und tatsächlich, es war ja auch weitgehend eine Erfolgsgeschichte. Deutschland ging es (und das ist, im Ernst, doch noch immer so!) gut. Die Auftragsbücher quollen über. Mit bekannt guter Qualität und günstigen Preisen war man konkurrenzfähig. Dass allerdings die allermeisten Zulieferer längst in Fernost saßen – was soll´s. Die deutsche Pharmaindustrie (einstmals als „Apotheke der Welt“ berühmt) ließ seit Jahren nicht nur Kopfschmerztabletten, sondern hochkomplexe Medikamente nahezu ausschließlich in China und anderen nahöstlichen Regionen herstellen. War (und ist) halt billiger als hierzulande. Im Zuge der Corona-Pandemie erfolgte dann der Aufschrei: „Knappheit! Wo ist unsere eigene Industrie?“
Zur Wahrheit bei dieser nicht gerade freudvoll stimmenden politischen, wirtschaftlichen und (nicht zu vergessen!) gesellschaftlichen Zustandsbeschreibung gehört freilich auch das Eingeständnis der Tatsache, dass wir über viele Jahre enorm von dem profitierten, was wir momentan bejammern – vom Russengas und von Chinas ökonomischer Expansionspolitik. Letztlich war es dem Riesenreich im Osten zu verdanken, dass sich keineswegs nur Deutschland, sondern auch die USA, die EU usw. über die großen Krisen der vergangenen Jahrzehnte hinwegretten konnten: Bankencrash, Euro-Währungssklerose, Wirtschafts-Einbrüche infolge von Corona. Und wenn man bedenkt, dass Volkswagen jedes zweite Auto in China verkauft und die (ursprünglich in Deutschland entwickelte) Technologie für Windkraft- und Solarenergie mittlerweile zu fast 100 Prozent aus dem Reich der Mitte kommt, dann sollte das eigentlich zu vermehrtem Nachdenken und Handeln anregen.
Und? Geschieht das? Zumindest ist etwas in Bewegung geraten. Zwar wurde Pekings staatlicher Großreederei COSCO noch jüngst der Teilbesitz des Hamburger Hafens zugebilligt. Allerdings immerhin hat vor wenigen Tagen Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) den Verkauf der Dortmunder Chip-Fabrik Elmos und des in Bayern angesiedelten Unternehmens ERS Electronic an chinesische Investoren verbieten lassen. Und der Minister hat angekündigt den Strom staatlicher Subventionen umzulenken – an deutsche Betriebe, die sich in anderen asiatischen Ländern ansiedeln möchten. Interessant ist, dass die deutsche Wirtschaft seit langem (und noch immer) so mächtig auf den chinesischen Markt gesetzt hast, obwohl von Anfang an nie gleiche Bedingungen bestanden. Der chinesische Staat besaß immer eine Mehrheit am ausländischen Unternehmen, verlangte jedoch trotzdem vollen Zugang zu allen Unterlagen und Entwicklungsergebnissen. Also den totalen technologischen Knowhow.
Im deutschen öffentlichen Bewusstsein hat ganz offensichtlich erst jetzt ein Umdenken eingesetzt. Ausgelöst einerseits durch die Energie-Krise im Zuge des russischen Ukraine-Kriegs, aber andererseits auch durch die Erkenntnis, dass China mit seinem Projekt der „Neuen Seidenstraße“ keineswegs etwa nostalgisch an den alten Reiseweg von Marco Polo anzuknüpfen bedenkt. Sondern in ihr den zentralen Part seines Strebens nach Weltmacht sieht. Dabei kann man nicht oft genug daran erinnern, dass Peking sein Nummer-1-Ziel bis 2030 nie als Geheime Kommandosache betrieb, sondern immer ganz offen darlegte. Wie man sehen kann, mit Erfolg. Um den Preis ihrer Sanierung überließ Ungarns Orban den Chinesen die Mehrheit an den magyarischen Staatsbahnen. Das hochverschuldete Griechenland verkaufte den Hafen von Piräus zu nahezu 100 Prozent, genau wie auch Belgien den Port von Zeebrügge. Marseille, Bordeaux und weitere französische und spanische Häfen befinden sich in chinesischem Mitbesitz. Wohlgemerkt: Das sind alles EU-Mitgliedländer! Mit gewaltigen Investitionen in Eisenbahnen, Häfen und Airports in Afrika sichert sich China zudem fast schon den Monopol-Zugang zu wichtigen Rohstoffen für modernste Industrien.
Dass die Sorge vor zu viel Abhängigkeit und möglicher Erpressung keineswegs grundlos ist, zeigen Beispiele wie diese: Als die Bundespressekonferenz (kein Regierungs-Instrument, sondern eine Vereinigung der in Berlin tätigen Korrespondenten) jüngst einer Gruppe von Bürgerrechtlern einlud (darunter Vertretern der in China verfolgten Uijguren), verlangte die Botschaft Pekings, die Veranstaltung abzusagen. Und als sich Belgiens Außenministerin Hadja Labib vor kurzem kritisch mit der totalen Machtsicherung von Xi Jinping auf dem Parteitag auseinandersetzte, verlangte der chinesische Brüssel-Botschafter mit Hinweis auf mögliche Folgen für den Hafen Zeebrügge die Rücknahme des Interviews. Vorboten dessen, was vielleicht schon in relativ kurzer Zeit politisches Tagesgeschäft werden könnte?
Man muss wirklich kein Wahrsager sein, um vorherzusagen, dass – obwohl direkt unbeteiligt – China als ein Gewinner aus den Wirren um den von Putin begonnenen Krieg mit der Ukraine hervorgehen wird. Putin wird (und muss) vor allem auf Peking hören, wenn er atomare Gedankenspiele anstellt. Und die Chinesen werden dem Kreml-Chef dabei mit Sicherheit auf die Finger klopfen. Zudem ist Russland wirtschaftlich wegen seiner jetzt auch noch verstärkten Öl- und Gaslieferungen von seinen „Freunden“ im Osten abhängig. Technologisch und ökonomisch hat China (trotz seiner rückständigen Provinz) die einstige kommunistische Führungsmacht ohnehin bereits längst weit abgehängt. Und nochmal – auch ohne prophetische Gabe fällt die Weissagung nicht schwer, dass wahrscheinlich noch vor der Jahrhundert-Hälfte die USA und China die bestimmenden Mächte auf dem Erdball sein werden. Dazu freilich müsste es den Amerikanern gelingen, ihren Frieden mit sich selbst zu machen und nie mehr auf politische Hütchenspieler und Trickser wie Donald Trump hereinzufallen.
Und Deutschland, die EU und der Rest der Welt? Was immer Habeck, die Bundesregierung aber auch die Wirtschaft anstellen mögen, um die wirtschaftlichen Ausrichtungen zu verändern – eine Abkoppelung von China ist schlichtweg nicht möglich. Dazu braucht das Exportland Deutschland den gigantischen Markt in Fernost zu nötig. Indessen ist es auch unerlässlich, mit dem Giganten zum Beispiel wegen der Umwelt- und Klima-Anstrengungen zu kooperieren. China bläst die mit Abstand meisten Schadstoffe in die Luft, steht andererseits aber auch mit an der Spitze der Staaten, die am stärksten versuchen, Abhilfe zu schaffen.
100 Jahre sind nicht viel in der Geschichte der Menschheit. Ein Jahrhundert ist aber lang genug, um (seit Kaiser Wilhelms „Hunnenrede“) die Welt von damals auf den Kopf zu stellen.
Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.