Von Gisbert Kuhn

Autor Gisbert Kuhn

„Was nützt die beste Sozialpolitik, wenn die Kosaken kommen?“ Der Satz stammt von dem großen liberalen Vordenker und Politiker Friedrich Naumann (1860 – 1919) und gehörte zu den Lieblingszitaten von Helmut Kohl. Dessen Regierungszeit war allerdings (zumindest anfangs) geprägt vom Kalten Krieg und (wenigstens bis zu Gorbatschows Perestroika) der Sorge, die Sowjetunion und der mit ihr zwangsverbündete Warschauer Pakt könnten versuchen, mit militärisch-politischen Aggressionen ihre wachsende wirtschaftliche Schwäche zu übertünchen. Dass Wladimir Putin, der Nachnachfolger des besonders hierzulande hoch geschätzten Moskauer Reformers, auch heute noch den Westen und die NATO angreifen lassen werde, erscheint kaum denkbar. Aber ein unangenehmer Pulvergeruch liegt trotzdem in der Luft.

Warum hat Putin mehr als 100 000 einsatzbereite Soldaten an die Grenzen zur Ukraine und zu den Baltischen Staaten verlegt? Warum 1 200 schwere Kampfpanzer in derselben Region konzentriert? Der machtpolitisch gestählte und geostrategisch bestens geschulte Ex-Geheimdienstler im Kreml wird sich hüten, einen heißen militärischen Konflikt mit dem westlichen Bündnis vom Zaun zu brechen. Aber derartige Muskelspielereien macht man ja wohl nicht zum Vergnügen. Und hier bei uns in Deutschland? Obwohl bei weitem nicht bloß in Osteuropa die Hütte brennt, hat man nicht den Eindruck, dass das Geschehen jenseits der Grenzen besondere Besorgnis auslöst. Ja, dass es überhaupt richtig zur Kenntnis genommen wird.

Weder im zurückliegenden Bundestags-Wahlkampf, noch in den Programmen der Parteien spielten die Außen- und Sicherheitspolitik eine größere Rolle. Klar, die Corona-Seuche beherrschte eindeutig die öffentliche Szene und tut das noch immer. Und natürlich beschäftigt die Klima-Problematik zu Recht die Menschen. Aber dass in der Öffentlichkeit Dinge außerhalb der deutschen Grenzen praktisch immer nur dann wirklich bewegen, wenn sie dramatische Dimensionen angenommen haben, ist nicht nur seltsam, sondern beunruhigend. Der gemütliche Selbstzufriedenheit von Goethes Biedermann im „Faust“ gilt längst nicht mehr – wenn sie denn je gegolten hat: „Nichts Bess´res weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen als ein Gespräch zu Krieg und Kriegsgeschrei. Wenn hinten, weit in der Türkei, die Völker aufeinander schlagen“.

Wie nur wenige hoch entwickelte Länder ist das unsere abhängig davon, was „draußen“ geschieht. Unser Wohlstand und damit natürlich auch das ganze Sozialsystem hängen am Import von Rohstoffen und vom Verkauf unserer Produkte in die ganze Welt ab. Auch die Voraussetzungen für unsere Sicherheit verlangen ein aktives Mitgestalten der Weltpolitik. Spätestens seit der deutschen Wiedervereinigung und des Endes der machtpolitisch und ideologischen Teilung in Ost und West durch den Zusammenbruch des Sozialismus ist auch die bequeme Zeitspanne vorbei, in der wir aus der warmen Ecke der Nichtbeteiligung gute Geschäfte machen und im Übrigen die Drecksarbeit, also das Beseitigen von Krisen, den Amerikanern überlassen konnten. Keine Frage, das Leben als politischer Zwerg, aber wirtschaftlicher Riese war angenehm. Aber es ist passé!

Aber im öffentlichen Geschehen der Bundesrepublik fokussiert sich alles auf die Innenpolitik. Dabei hätte doch Jedem spätestens nach dem Afghanistan-Desaster unsere militärische und damit auch politische Schwäche klar vor Augen getreten sein müssen. Ohne amerikanische Aufklärung und Kommunikation war die Bundeswehr praktisch handlungsunfähig. Und das war selbstgemacht. Im Rausch der angeblichen „Friedensdividende“ wurden die militärischen Fähigkeiten der Bundeswehr immer mehr zusammengestrichen. Denn wir waren ja, so posaunten es wenigstens die Parteien im Verein mit den allermeisten Medien hinaus, umgeben nur noch von Freunden. Dass nicht unbedeutende Mitglieder dieses Freundeskreises seit geraumer Zeit versuchen, das Beste was nach dem Krieg geschaffen worden war, die Europäische Union, ihrer wichtigsten Werte zu entkernen – wo wird diese Gefahr hierzulande thematisiert?

Was in Polen und Ungarn, in der Slowakei und Slowenien geschieht, sind Anschläge auf das Herz der Demokratien – Zerschlagung der Pressefreiheit, permanente Schwächung der Unabhängigkeit der Justiz usw. Ja, das weitgehend grenzenlos gewordene Europa hat Schwächen. Sehr große sogar. Dennoch handelt es sich um ein großartiges Werk. Wo und wann hätte es jemals zuvor in der Geschichte eine derartige grenzübergreifende Einigung gegeben. Und das auch noch ohne Krieg, sondern allein durch menschliche Einsicht und politischen Willen! Genau an solchem fehlt es derzeit ebenso wie an führungsstarken Gestaltern. Allerdings werden solche auch nirgendwo gefordert.
Gewiss war es ein großer Fehler der westlichen Gemeinschaft – einschließlich der USA, der EU und der NATO – nach dem Zusammenbruch des Sozialismus und der Sowjetunion diese nicht von vornherein als gleichwertigen Partner zu behandeln, sondern ihn zu einer Mittelmacht zu degradieren. Russland ist ein wichtiger Teil von Europa, und die Europäer müssen sie ihn einbeziehen, wenn sie Europapolitik betreiben oder gar auf der weltpolitischen Bühne mitspielen wollen. Denn eines ist spätestens seit der desaströsen Ära von US-Präsident Donald Trump klar – die Amerikaner sehen in Europa keineswegs mehr den wichtigsten Verbündeten, um dessen Wohl sie im Zweifelsfall sogar erneut in einen Krieg ziehen würden. Wer immer in Washington die politische Verantwortung trägt, wird seinen Blick auf den neuen, vermutlich dauerhaften globalen Gegenpart richten – China.

Die chinesische Führung hat längst ihren Hut in den Ring geworfen. Ja, sie hat offen erklärt, bis 2030 die Nummer eins auf dem Globus werden zu wollen. Wirtschaftlich sowieso, aber auch militärisch. Die Grundlagen dazu hat Peking in geradezu atemberaubender Geschwindigkeit geschaffen. Natürlich spiegeln die glänzenden Metropolen wie Peking oder Shanghai bei weitem nicht die Wirklichkeit des gesamten Riesenreichs wider. Abseits dieser gigantischen Städte, auf dem Land, herrschen grausame Lebensumstände, die einem den Atem stocken lassen. Aber das kümmert die Staatsführung keinen Deut. Längst ist das Reich der Mitte nicht mehr die verlängerte Werkbank der westlichen Industriestaaten, sondern hat in weiten Teilen der Hochtechnologie nicht nur aufgeschlossen, sondern ist sogar davongezogen. Noch macht die deutsche Automobil-Industrie in China zwar gute Geschäfte. Aber wie lange wird das wohl noch andauern?

In aller Munde ist der Begriff „Neue Seidenstraße“. Ob man in der Breite der deutschen Öffentlichkeit wirklich schon begriffen hat, dass sich dahinter kein touristisches Großprojekt verbirgt, sondern eine kühl ausgeklügelte geostrategische Strategie. Zur Neuen Seidenstraße gehören u. a. Großprojekte in Afrika (Eisenbahnen, Straßen, Häfen), bei denen mit chinesischen Milliarden und chinesischen (!) Arbeitern nicht nur Staaten abhängig gemacht, sondern zugleich Zugangsrechte zu wertvollen Rohstoffen gesichert werden. Das geschieht aber auch in Europa, sogar in EU-Mitgliedsländern. Etwa bei der Sanierung der ungarischen Staatsbahnen, an denen der chinesische Staat Anteile besitzt. Oder mit dem griechischen Hafen Piräus. Zudem wurden weltweit mit gewaltigem finanziellen Aufwand Produktionsstätten gekauft, in denen Hightech-Fabrikate produziert werden – und zwar auch in Deutschland.

Man braucht, indessen, nicht einmal diese Bereiche der Zukunftswirtschaft ins Auge zu fassen, um zu begreifen, wie weit unsere Abhängigkeit schon jetzt reicht. Um bei der Herstellung ein paar Pfennig oder Cent einzusparen, haben deutsche und europäische Pharma-Konzerne vielfach ihre Pillen-Produktionen in asiatische Billigländer verlagert. Als bei uns die Corona-Pandemie ausbrach, brach mit einem Mal auch das große Jammern aus. Weil medizinische Masken und wichtige Medikamente fehlten! Dann wurden auch noch die Halbleiter knapp, die beim Bau moderner Fahrzeuge oder auch nur Waschmaschinen benötigt werden.

In Gesprächen über diese Probleme wird eigentlich schnell deutlich, dass niemand ein Leben à la China als erstrebenswert ansieht. Beim Thema Bundeswehr und Verteidigung, schon gar mit deutschem Engagement, sieht es allerdings schon wieder ganz anders aus. Schließlich führt die Debatte darüber zwangsläufig zu den notwendigen Finanzen. Dann ist es doch einfacher, über das Wetter zu reden. Oder es dem Vogel Strauß nachzumachen und den Kopf in den Sand zu stecken. Ganz nach dem Motto: Ich seh´ dich nicht, du siehst mich auch nicht.

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.      

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