Für die Deutschen war „Europa“ die Rückkehr in die Zivilisation

Von Günter Müchler

Am, 9. Juni wählten die Bürger der 27 in der Europäischen Union (EU versammelten Staaten das nächste Europäische Parlament. Also die abwechselnd in Brüssel und Straßburg tagende, demokratische Vertretung ihrer Anliegen. Mit anderen Worten – ihr Parlament. Zum 10. Mal inzwischen. Es hat lange Zeit und auch ungezählte politische Machtkämpfe gegeben, bis das „Hohe Haus“ seine jetzige Gestalt und – viel wichtiger noch – seinen Einfluss auf die Gestaltung dieser schwierigen EU erringen konnte.  Aber obwohl ohne die Zustimmung dieses Parlaments bei der gemeinsamen Gesetzgebung im verfassten Europa gar nichts laufen würde, ist in den weitesten Teilen der Bevölkerung der 27-er-Gemeinschaft dieser parlamentarische Einfluss kaum bekannt. Deshalb standen auch die jüngsten „Europawahlen“ praktisch überall unter dem Diktat der jeweiligen nationalen Innenpolitik. Leider gilt diese Unkenntnis auch für Deutschland, das (nach dem von ihm angezettelten, verheerenden Zweiten Weltkrieg) der europäischen Einigung vor allem die Rückkehr in den Kreis der zivilisierten Staaten verdankte. Die Weichen dafür wurden nicht zuletzt in der damaligen, beschaulichen „Ersatz“-Hauptstadt Bonn gestellt. Den Einfluss der „Bonner Republik“ beschreibt erneut unser Autor Günter Müchler im zweiten Teil seines Textes.

Auf den Erfolg des neuen Staates hatte seinerzeit keiner gewettet. Am Start war schließlich Nicht-Untergehen schon ein ehrgeiziges Ziel. Dieser sonderbare Staat vertrat ja nicht einmal die ganze Nation, er war nur halb souverän und stellte sich selbst unter Vorbehalt, indem er seine Verfassung nicht Verfassung nannte, sondern mit begrifflicher Scheu Grundgesetz.  Deutschland hatte im Mai 1945 militärisch kapituliert, moralisch war es ruiniert, politisch isoliert. Seine Städte lagen in Trümmern, das Land war zerteilt, mehr als zehn Millionen Flüchtlinge und Vertriebene drängten in seine westliche Hälfte. Entsprechend groß war das Aufgabenpensum. Die Wirtschaftskräfte mussten wiederbelebt, der Wohnungsbau angekurbelt, die Flüchtlingsmassen integriert, die Daseinsvorsorge auf ein verlässliches Fundament gestellt werden – das alles bei hoher Gleichzeitigkeit.

Der neue Wohlstand

Das Ergebnis war mehr als zufriedenstellend. Die Wirtschaft sprang an. Der neue Wohlstand erreichte weite Teile der Bevölkerung und verhalf dem jungen Staat zu einer Stabilität, die Weimar nie besessen hatte.  1957 errang die CDU/CSU mit dem Slogan „Keine Experimente“ und Konrad Adenauers „Indianerkopf“ auf den Wahlplakaten 50, 2 Prozent der Stimmen und damit einen Wert, der bei Bundestagswahlen nie mehr erreicht wurde. Weil der Aufstieg alle Wahrscheinlichkeitsrechnungen widerlegte, fiel Beobachtern nichts Besseres ein, als von einem Mirakel zu sprechen – dem „deutschen Wirtschaftswunder“.

In Wirklichkeit war es das Ergebnis zweier Faktoren. Einmal hatte die Bonner Republik, salopp gesagt, Glück. Der Kalte Krieg war ausgebrochen. Plötzlich brauchte man die Paria-Deutschen wieder. Der zweite Faktor war hausgemacht. Mit den meisten Entscheidungen lagen die Adenauer-Regierungen richtig. Viele sind derart in den Besitzstand eingegangen, dass man heute kaum noch versteht, weshalb sie in der Zeit so umstritten waren. Beispiel Soziale Marktwirtschaft: Der Kanzler musste hart kämpfen, ehe sich das von seinem Wirtschaftsminister Ludwig Erhard vertretene Konzept gegen planwirtschaftliche Vorstellungen durchsetzte, wie sie von der SPD aber auch Teilen der CDU vertreten wurden.

Schluss mit der „Schaukelpolitik“

Mut und Überzeugungskraft erforderte auch die Wiederbewaffnung. Sie wäre mit Sicherheit gescheitert, hätte Adenauer nur auf Sympathiepunkte geschielt.  Für ihn war der deutsche Wehrbeitrag ein notwendiger Baustein der Westbindung, auf die er ohne Abschweifung hinsteuerte. Der Anschluss an den Westen, an seine Werte und an sein kollektives Sicherheitssystem, bedeutete den Bruch mit der Tradition preußisch-deutscher Schaukelpolitik. Kein Neutralismus, kein Dritter Weg zwischen den Blöcken, sondern Parteinahme ohne Hintergedanken. Dafür ließ sich Adenauer sogar als „Kanzler der Alliierten“ beschimpfen und der nationalen Unzuverlässigkeit bezichtigen. Die Wiedervereinigung, Jahrzehnte später errungen, gab seinem Konzept Freiheit vor Einheit schließlich Recht.

Ein Angebot, das man nicht ausschlagen konnte, waren die Vereinigten Staaten von Europa. Die beste Utopie, die je auf dem alten Kontinent erdacht wurde, hatte in der Vergangenheit gegen den tief eingewurzelten national-egoistischen Eigensinn nie eine reelle Chance gehabt. Erst jetzt, nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, gelangte sie zur Reife. In Deutschland wurde sie erfreut aufgegriffen, bot sie doch die Perspektive eines Wiedereintritts in die Völkergemeinschaft. Emphatisch versicherte die Grundgesetz-Präambel, die Bundesrepublik sei „vom Willen beseelt“, als „gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“.

Eine alte Idee wiederbelebt

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Die Idee, sich zusammenzutun, statt sich zu bekriegen, hatte schon in der Zwischenkriegszeit vor allem rechts und links des Rheins eine Rolle gespielt. Befürworter luden sie auf mit der Vision eines christlichen Abendlands. Adenauer knüpfte 1948 in einem Zeitungsinterview daran an: „Zwischen Loire und Weser schlug einst das Herz des christlichen Abendlandes. Der Stil des Kölner Doms, des ehrwürdigen Wahrzeichens des deutschen Westens, hat seine Wurzeln im französischen Boden. Eine Erneuerung des abendländischen Gedankens kann nur das Ergebnis einer fruchtbaren Begegnung zwischen Deutschland und Frankreich sein“  

Für den Realisten Adenauer war das ein seltener sprachlicher Ausritt in den Idealismus. Europäern des 21. Jahrhunderts kommt sein sehr rheinischer und sehr katholischer Standpunkt fremd vor. Aber der „Alte“ war davon überzeugt, dass ein vereintes Europa mehr sein müsse als eine bloß utilitaristische Veranstaltung. Es brauchte eine geistige Grundlage, und die war für ihn  das christliche Abendland. Mit seiner Auffassung stand er keineswegs allein. Der Anteil des katholischen Elements unter den Europäern der ersten Stunde war auffällig hoch. Noch 1957, als durch die Römischen Verträge die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) aus der Taufe gehoben wurde, gingen die beteiligten Staatsmänner wie selbstverständlich erst einmal in die Kirche. „In der abendländischen Symbolik jenes 25. März 1957 schwangen neokarolingische Integrationserwartungen mit, die wie eine ungeschriebene Präambel der Verträge wirkten“, urteilt der Staatsrechtler Frank Schorkopf. Staatsrechtler Frank Schorkopf. Tatsächlich war die Gestalt der Sechsergemeinschaft dem Frankenreich Karls des Großen zum Verwechseln ähnlich.

„Kein Grund zu Weinen“

Als Adenauer 1963, nicht ganz freiwillig, nach 14 Jahren aus dem Amt des Bundeskanzlers schied, waren Markierungen gesetzt, die bis heute wenig von ihrer Gültigkeit verloren haben. Die Bonner Republik hatte eine Stabilität erlangt, die sie für kommende Bewährungsproben wappnete.  So war es wohl auch ein Ausdruck der Zufriedenheit mit seinem Werk, als sich Adenauer im Angesicht des nahen Todes von seiner Familie mit den Worten verabschiedete, „Da jitt et nix zo kriesche!“, – auf hochdeutsch: „Da gibt es keinen Grund zu weinen“).  

Beim Begräbnis des ersten deutschen Nachkriegskanzlers nahm die Bonner Republik ausnahmsweise Abstand von der ihr eingeborenen Zurückhaltung. Im Staatsakt inszenierte sie sich selbst. Die Organisatoren bewiesen eine glückliche Hand, indem sie eine Rheinfahrt in den Mittelpunkt des Zeremoniells rückten. Schließlich war der Rhein die Achse von Adenauers politischen Kombinationen gewesen. Er war die Achse auch des neuen Europas, auf das der Verstorbene so lange hingearbeitet hatte. Die Flussfahrt als letzte irdische Etappe konnte auf Vorbilder zurückgreifen. 1840 waren die Gebeine von Napoleon I. auf der Seine von Cherbourg nach Paris übergeführt worden. Zeitlich näher lag das Vorbild Churchill. Der britische Kriegspremier war zwei Jahre vor Adenauer gestorben. Als das Schiff mit seinem Leichnam die Themse London herabfuhr, senkten die Lastkräne am Ufer hochachtungsvoll ihre Tragarme.

Adenauers tägliche Fährverbindung

Der Durchlauf der Begräbnisfeierlichkeiten begann am 22. April 1967. Der mit der Bundesflagge bedeckte schlichte Eichensarg wurde bei Rheinkilometer 647 auf die Fähre Königswinter – Dollendorf verbracht und sodann zum gegenüber liegenden Plittersdorf transportiert. Die Fährverbindung hatte Adenauer täglich genutzt, wenn er nach Bonn zur Arbeit fuhr. Im Palais Schaumburg – der Regierungszentrale — wurde der tote Kanzler für zwei Tage aufgebahrt. Der protokollarische Höhepunkt der Trauerfeierlichkeiten fand im benachbarten Bundestag statt.

Mehr als hundert Staaten hatten Vertreter geschickt. Die prominentesten waren Frankreichs Staatspräsident Charles de Gaulle, US-Präsident Lyndon B. Johnson, Großbritanniens Premierminister Harold Wilson, der langjährige Premierminister Israels, David Ben Gurion, sowie der sowjetische Außenminister Andrej Gromyko. Nächste Station war Köln. Im Dom nahmen zehntausende Bürger Abschied von ihrem ehemaligen Oberbürgermeister. Kardinal Frings zelebrierte ein Pontifikalamt. Dann begann die letzte Fahrt auf dem Rhein. Ein Schnellboot der Bundesmarine, im Schlepptau ein Dutzend weiterer Schiffe, beförderte den toten Adenauer zurück nach Hause. Trauben von Menschen drängten sich auf den Rheinbrücken. Zwölf „Starfighter“ überflogen donnernd den Konvoi. Feldhaubitzen schossen 91mal Salut, ein Schuss für jedes Lebensjahr.

400 Millionen schauten zu

Adenauers Beisetzung war ein Medienereignis, wie es die Bundesrepublik noch nie gesehen hatte. Das Fernsehen übertrug live. 400 Millionen Menschen schauten zu, u.a. in Japan und in den USA.  „Der Alte“ sei wie ein König zu Grabe getragen worden, schrieben die Zeitungen und strichen die weltweite Anteilnahme heraus. Die war, in der Tat, keine Selbstverständlichkeit. Noch war die Erinnerung an Hitlers Krieg frisch. Der Eichmann-Prozess lag erst sechs Jahre zurück. In den Frankfurter Auschwitzprozessen waren gerade die Urteile gesprochen. Umso mehr machte die Beisetzung des Kanzlers sinnfällig, „dass die Bundesrepublik unter Adenauer und durch Adenauer in die Gemeinschaft der westlichen Demokratien eingetreten“ war (der Adenauer-Biograph Hans-Peter Schwarz). Man nahm der Bonner Republik den Neubeginn ab, wenigstens im Westen. Und das Gesicht dieser Republik war Konrad Adenauer.

 

Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.    

 

 

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