Von Gisbert Kuhn

Autor Gisbert Kuhn

Von außen betrachtet muss Deutschland ein seltsames, auf alle Fälle ein verwirrendes Bild abgeben Die Wirtschaft brummt mit Handels- und Zahlungsüberschüssen, die jenseits der Grenzen schon geraume Zeit als ärgerlich, ja besorgniserregend empfunden werden. Selbst die Arbeitslosenzahlen tendieren in Richtung immer neuer Tiefstwerte. Auch die Tourismusbranche, in der Regel ein ziemlich genaues Stimmungsbarometer, vermeldet uneingeschränkt gute Geschäfte. Wenn da nur nicht diese miesen Umfrage-Ergebnisse der Meinungsforscher wären! Grassierende Unzufriedenheit in der Bevölkerung mit der (alten) neuen Bundesregierung. Der scheinbar ewigen Bundeskanzlerin überdrüssig. “German  Angst“ beim Blick in die Zukunft, Angst vor Überfremdung, Angst vor sinkendem Wohlstand, Angst vor wachsender Kriminalität, Angst vor einer „Islamisierung“, Angst vor… und, und, und.

Es gärt unter der Oberfläche

Keine Frage, es gärt unter der Oberfläche. Und wenn wir nicht höllisch aufpassen, dann wird dieses Land eines vielleicht gar nicht einmal so fernen Tages in eine gefährliche Schieflage geraten. Wir – damit sind wirklich wir alle gemeint. Jene, die (auf welchen Ebenen auch immer) in der Politik Verantwortung tragen und viel zu häufig anstelle mutiger (wenngleich unpopulärer) Entscheidungen kleinkarierter Polemik und billiger Hetze den Vorzug geben. Jene, die vorgeben, die Wirtschaft zu lenken zum Vorteil der Gemeinschaft, in Wirklichkeit jedoch die einstigen Kernelemente der Sozialen Marktwirtschaft (allen voran die Sozialbindung des Eigentums) längst in die Rumpelkammer der Ökonomie gestellt haben, selbst (siehe VW und andere) vor krassem Betrug nicht zurück schrecken und sich – sogar im Falle persönlichem Versagens – unglaubliche Abfindungssummen zuschustern. Aber genauso wir, das Millionenheer der „normalen“ Bürger, das (zumeist mit der Parole „mehr Gerechtigkeit“) ein Anspruchsdenken gegenüber „dem Staat“ an den Tag legt, das sämtliche Grenzen vermissen lässt.

Kein Begriff, indessen, ist derart schillernd wie „Gerechtigkeit“. Und zwar ganz einfach deswegen, weil jeder (oder besser: jede auf ihre Weise egoistisch gesteuerte Interessengruppe) darunter etwas anderes versteht. Und Viele haben ja auch gar nicht Unrecht. Denn natürlich gäbe es an hunderttausenden Stellen Anlässe, tatsächliche oder auch nur empfundene Missstände und Unzulänglichkeiten zu korrigieren. Das Problem ist dann in aller Regel freilich, dass Verbesserungen hier (weil, klar, mit Kosten verbunden) zwangsläufig dort eingespart werden müssen. Und schon wieder ist „dort“ der Protestruf „Ungerechtigkeit“ groß. Unter gesitteten Menschen gehören Interessenkonflikte und deren Ausgleich zum normalen Alltag. Selbst wenn eine Portion Schärfe ins Spiel kommt, schadet das nicht, sondern trägt – im Gegenteil – eher zur Würze bei. Entscheidend ist allein, dass dabei die Regeln des Anstands beachtet werden. Anstand – dieser altmodisch gewordene Begriff ist hier absichtlich gewählt worden.

Riss durch die Gesellschaft

Selbstverständlich würde die Rückbesinnung auf die Benimm-Regeln des Freiherrn von Knigge nicht ausreichen, um all das wieder in geordnete Bahnen zu lenken, was über Jahre schon schief läuft in diesem Lande. Dazu müsste die Gesellschaft zunächst einmal selber mehr mit sich ins Reine kommen. Zwar werden Politiker, Theologen, Philosophen nicht müde, bei allen möglichen Gelegenheiten von „unseren Werten“ zu sprechen. Doch, auf Nachfrage und bei Lichte besehen, bleibt es am Ende zumeist bei Allgemeinplätzen. Zumindest bleiben in der Regel die Fragen nach den politischen und zivilisatorischen Errungenschaften unbeantwortet, für die sich die Deutschen notfalls verkämpfen würden. Stattdessen muss man schon sehr die Augen gegenüber den Realitäten verschließen, um den tiefen Riss zu übersehen, der längst durch unsere Gesellschaft geht.

Ganz sicher wird so ziemlich jeder auf breite Zustimmung stoßen,  der das hohe Lied auf eine „bunte, tolerante und liberale“ Bundesrepublik Deutschland singt. Aber schon wenn es um die Frage geht, wer denn wohl über die Einhaltung der auch dafür unverzichtbaren Regeln wachen soll, entspringt ein erbitterter Streit. Denn das könnte in Wirklichkeit, ohne Frage, nur der Staat. Das heißt allerdings auch: Ein starker Staat, der (logisch, parlamentarisch-demokratisch kontrolliert) notfalls auch sein Gewaltmonopol einsetzt. Und zwar nicht erst dann, wenn – wie beim G-20-Gipfel in Hamburg – die Hütte brennt. Aus dem Lateinischen sind uns die zwei untrennbaren Weisheiten überliefert: „Wehret den Anfängen“ und „Bedenket das Ende“.

Konkret: Die Straßenschlachten von Hamburg (plus die vielen bereits vorangegangenen) wären mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit gar nicht passiert, hätte nicht jahrelang vorher die Politik die Grenzen zivilisierten Verhaltens mehr und mehr ausgeweitet und gleichzeitig ihre eigenen Ordnungskräfte  materiell und personell immer weiter „abgerüstet“. Ganz zu schweigen von entsprechenden Rechtssetzungen und –sprechungen.  Auch dazu einige Beispiele: Jedes Wochenende während der Fußball-Saison dringen dieselben Bilder aus den Stadien. Hochgefährliche Böller, Abbrennen von Pyrotechnik, was schlimmste Verbrennungen nach sich ziehen könnte, Prügeleien und Straßenschlachten vor und nach den Spielen – hinterher jedesmal großes Entsetzen in den betroffenen Vereinen. Dazu „Fan“-Clubs, die mit blauen Augen und unschuldiger Miene ihr Recht auf Spaß und Party einfordern. Ja, im Vergleich zu den zehntausenden wirklichen Fans sind die zu Gewalt Entschlossenen Minderheiten. Umso mehr die Frage: Wie bringen die das explosive Zeug in die Stadien, und warum lassen sich die paar Schläger und Zündler nicht separieren?

„Nicht verallgemeinern“  

Und schon sind wieder die entschuldigenden Sprüche zu hören. Ja, das sei – keine Frage – unangenehm, heißt es. Aber es handele ja nur Wenige. Und man dürfe deshalb auf keinen Fall alle Fußballbegeisterten „unter Generalverdacht“ stellen. Dümmer geht es wirklich nimmer. Welcher vernünftige Mensch käme denn auf die Idee mit dem „Generalverdacht“? Immerhin wurde soeben in Mannheim ein Relegations-Spiel zur 3. (!) Liga abgebrochen, und in Cottbus konnte das Match nur mit Mühe zu Ende geführt werden. Das wird die Heimvereine wieder ein paar tausend Euro Strafe kosten, die Täter hingegen bleiben vermutlich wieder unbehelligt und werden bei nächster Gelegenheit ihre Handlungsgrenzen erneut um ein Stück erweitern. Solche Verhaltensweisen sind schlicht unanständig. Sie überschreiten zugleich die Grenzen zur Kriminalität.

Ist es da ein Wunder, wenn zunehmend Menschen nach der Schutzpflicht und der Schutzfähigkeit des Staates fragen? Das sind keine Fragen und Positionen von links oder rechts. Wenn 60 Schwarzvermummte im niedersächsischen Hitzacker ungehindert das Haus eines Polizisten belagern können, dann ist das eine Niederlage der demokratischen Gemeinschaft. Wenn staatliche Anerkennungsbehörden für Flüchtlinge in Bremen und anderswo jahrelang offensichtlich (und möglicherweise mit Hilfe bestochener Anwälte) massenweise falsche Bescheide ausstellen konnten, dann ist das ein skandalöses Versagen von Institutionen, die doch in Wirklichkeit wie kaum andere auf das Vertrauen der Bürger angewiesen sind. Wenn sich, worauf manches hindeutet, inmitten der über 3 Millionen Türken in Deutschland mehr oder weniger unbemerkt eine Art „5. Kolonne“ bilden konnte, die praktisch auf Knopfdruck aus Ankara mobilisiert und politisch instrumentalisiert werden kann, dann stellt sich erneut die Frage, wohin  das führen soll.

„Wo bleibt das Positive?“

Der geniale Satiriker Erich Kästner hat u. a. diesen wunderbaren Vierzeiler geschrieben:

„Und immer wieder schickt ihr mir Briefe,

in denen ihr dick unterstrichen schreibt:

´Wo, Herr Kästner, bleibt das Positive´?

Ja weiß der Teufel, wo das bleibt“.

Das hier bisher Beschriebene bildet, gar keine Frage, eine ziemlich düstere Kulisse ab. Natürlich gibt es im Lande neben dem Schatten wunderbare lichte Seiten. Etwa die atemberaubenden Leistungen von Schülern bei der Aktion „Jugend forscht“. Oder wie stünde unser Land da ohne die Millionen Ehrenamtler und freiwilligen Helfer. Sie setzen ihre Arbeit – oft genug sogar ihre Gesundheit und ihr Leben – ein für das Gemeinwohl. Gerade diese Menschen hätten wirklich Dank verdient. Aber dann liest man nahezu tagtäglich von Fällen, wo Rettungssanitäter oder Feuerwehrleute nicht nur behindert, sondern sogar körperlich angegriffen werden. Und das soll nichts mit Anstand zu tun haben? Es gilt wirklich aufzupassen in diesem Land. Bevor es zu spät ist.   

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