2024 – Wunsch, Hoffnung und Glaube
Von Gisbert Kuhn

Der Jahreswechsel ist traditionell der Zeitpunkt für Gute Wünsche. Wünsche für sich selbst, Verwandte, Freunde und Bekannte. „Prosit Neujahr“, es möge nützen. Daran soll sich auch am Übergang von 2023 nach 2024 nichts ändern. Warum auch? Weil die Welt um uns herum verrücktspielt? Weil, vor dem Hintergrund menschlicher Tollheiten wie sinnloser, von schierer Machtgier gespeister Angriffskriege, unvorstellbar grausamer Terroristen-Überfälle und nationalistisch gesteuerter Denk- und Wahlverhalten in eigentlich demokratisch verfassten Bevölkerungen der Glaube an christliche (oder doch wenigstens humanistischer) Werte den Bach hinunter zu gehen scheint? Weil es so aussieht, als gehe in manchen Wohlstandsgesellschaften (die unsrige nicht ausgenommen) erschreckend vielen Menschen das Vertrauen letztendlich in die eigene Stärke verloren, so dass ein Trend zur Autokratie immer deutlicher und der Ruf nach einem „starken Mann“ immer lauter wird? Wie in Ungarn, wie in Holland, wie (zeitweise) in Polen, wie (demnächst?) in Frankreich oder gar (verschon´ uns, Herr!) ein weiteres Mal mit Donald Trump in den USA?
Es ist schon richtig, dem nach vorn gerichteten Blick offenbart sich kein Glück verheißendes Szenario. Denn es macht doch einigermaßen fassungslos zu beobachten, mit welcher Brachialgewalt bereits in den erste zwei Jahrzehnten des neuen Jahrtausends versucht wird, Hand an die Friedenswerke zu legen, die – aus den bitteren Erfahrungen von Kriegen, Zerstörung, Flucht und Vertreibung – von mutigen Staatsmännern und -frauen sowie klugen Völkern am Ende des 19. Jahrhunderts errichtet worden waren. Attacken auf die Einigung Europas, zum Beispiel – auf das Beste, was auf dem über 2000 Jahre von Schlachten, Eroberungen, Morden, Seuchen und jeglicher Gewalt durchbebten Kontinent je geschaffen wurde. Es ist doch regelrecht bescheuert, dass ungezählte Bürger nicht stolz sind auf dieses Werk, sondern zunehmend an seinen Fundamenten rütteln.
Ist es denn wirklich so schwer zu begreifen, dass in einer Welt, in der sich (mit entsprechenden Machtansprüchen) militärisch, politisch und wirtschaftlich neue Großmächte herabbilden, der „alte Kontinent“ in nationaler Zersplitterung in absoluter Bedeutungslosigkeit versinken würde?! Dass ein weiteres Kleinklein auf den Gebieten Wirtschaft, Industrie, Energie usw. jeglichen Einfluss auf Änderungen bei der Klimapolitik von vornherein zur Illusion verdammt. Dass die Wahrung der äußeren wie inneren Sicherheit allein undenkbar ist. Nach dem unsäglichen Brexit Großbritanniens muss man nun wirklich nicht nur auf Ungarn und dessen immer mehr an den hungaro-faschistischen Zwischenkriegs-Herrscher Nikolaus (Miklos) von Horty erinnernden Viktor Orbán (was für ein Wandel vom freiheits-beseelten, pro-europäischen Politiker zum heutigen Fast-Diktator) schauen, um einen Schauder zu verspüren.
Es mutet fast wie eine schicksalhafte Fügung an, dass mit dem Deutschen Wolfgang Schäuble und dem Franzosen Jacques Delors praktisch zeitgleich am Ende dieses Jahres zwei Männer verstorben sind, die ganz wesentlich in den 80-er und 90-er Jahren des vorigen Jahrhunderts mitgebaut haben am europäischen Einigungswerk. Mehr noch, ohne die tatkräftigen Schübe des seinerzeitigen französischen EU-Kommissionspräsidenten wäre – angesichts des deutlichen Widerstands aus anderen Mitgliedländern – die wirtschaftliche Eingliederung des einstigen DDR-Gebiets in den Gemeinsamen Europäischen Markt sehr viel schwerer von statten gegangen. Zwei große Europäer sind gegangen – nachgewachsene, ähnlich große Persönlichkeiten sind nicht in Sicht.
Natürlich liegt hier die Frage nicht weit „Was soll der Blick zurück?“ Diese Frage hat auch der große Physiker Albert Einstein schon vor mehr als 100 Jahren gestellt: „Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben“. Aber derselbe Albert Einstein hat der Menschheit auch einzubläuen versucht, dass alles mit Allem zusammenhänge. Mithin also auch die Zukunft mit der Vergangenheit. Deshalb wird, um dieser Logik zu folgen, eine sichere Zukunft unseres Landes und des Kontinents überhaupt nur möglich sein, wenn unsere Völker nicht erlauben, dass irgendjemand auch nur versucht, das Europäische Haus ins Wanken zu bringen. Um auch in diesem Zusammenhang noch einmal Einstein zu zitieren: „Die Welt wird nicht bedroht von den Menschen, die böse sind, sondern von denen, die das Böse erlauben“.
Und das gilt auch – und nicht zuletzt – für unser eigenes Land. Wer zeit seines Lebens mit dem Schwur verbracht hat „Nie wieder“, verfolgt mit Grausen die wachsende Zustimmung in Deutschland für eine Partei, die im Programm, vor allem aber in Person ihrer Anführer genau (offensichtlich verführerisch, weil so eingängigen) jene Gedanken verkörpert, die spätestens in den Bombenhageln auf deutsche Städte ein für alle Mal verbrannt zu sein schienen: Antisemitismus, Nationalismus, Fremdenhass, Selbstüberhebung usw., usw. Natürlich gibt es Grund genug, mit vielen Entscheidungen (und Nicht-Entscheidungen) der Berliner Ampel-Koalition zu hadern. Aber aus Enttäuschung Wut werden zu lassen, ist (mit Verlaub) eine ziemlich alberne Problemlösung. Und diese Wut dann auch noch in die Kanäle rechtsextremer Politik zu lenken, ist mehr als töricht. Es ist höchst gefährlich. Besonders für ein Land, das – wie kaum ein anderes – von Nachbarn umgeben und auf deren Freundschaft angewiesen ist.
Was lehrt uns das nun? Natürlich könnte man auf diese Frage mit dem deprimierenden Fazit des großen indischen Freiheitskämpfers Mahatma Gandhi antworten: Die Geschichte lehrte die Menschen, dass die Geschichte die Menschen nichts lehrt. Tatsächlich aber dürfte es so sein, dass die Geschichte dauernd lehrt, jedoch keine (oder zumindest zu wenig) Schüler findet. Egal – wir von rantlos werden jedenfalls nicht den Kopf in den Sand stecken, Trübsal blasen oder voller Ängste vor der Zukunft die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Sondern wir glauben weiterhin daran, dass wenigstens der Überlebenswille (wenn schon nicht die eigene Klugheit) die Menschen irgendwie zur Vernunft bringen wird, damit sie nicht alles kurz und klein schlagen. Wunsch, Hoffnung und Glaube – alles in Einem.
In diesem Sinne: Prost Neujahr und einen hoffentlich glücklichen Verlauf 2024.
Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.