Von Wolfgang Bergsdorf

Wolfgang Bergsdorf

Zu allen Zeiten haben Menschen sich Gedanken gemacht über die Zukunft. Je stärker sie mit ihrer Gegenwart unzufrieden waren, desto rosiger fielen ihre Träume aus. Das gilt natürlich vor allem für die Politik. Schon die alten Griechen haben sich aus der rauen Wirklichkeit ihrer politischen Zustände in idealisierte Welten hineingeträumt. Seit Thomas Morus (1516) tragen diese idealen Gesellschafts- und Politikentwürfe einen Namen: Utopie.

Das Kunstwort spielt mit seinen griechischen Wortbestandteilen und will einen Nicht-Ort und eine Nicht-Zeit kennzeichnen, um die Irrealität des utopischen Denkens zu verdeutlichen. Seit vier Jahrhunderten sind zahllose utopische Romane, fiktive Reisebeschreibungen von fernen Inseln, entlegenen Orten oder von Planeten erschienen, in denen neue gesellschaftliche Verhältnisse und/oder neue politische Einrichtungen gedanklich erprobt werden. Die klassischen Utopien wollen Gesamtentwürfe für eine vollkommene, auf dem Gerechtigkeitsprinzip basierende Gesellschaftsordnung anbieten. Sie möchten alle ein in kritischer Absicht entwickeltes Kontrastprogramm zu den bestehenden Verhältnissen bieten und werden deshalb oft als „Staatsromane“ bezeichnet.

 Von diesen positiven Utopien unterscheiden sich die Dystopien, welche die bestehenden Verhältnisse in Schreckensdimensionen weiterdenken und das Bild einer schönen Hölle zeichnen. In ihnen wird die utopische Vorstellung von einer harmonievollen Gemeinschaft guter und autonom handelnder Menschen in einer hochtechnisierten Gesellschaft in ihr Gegenteil verkehrt. In einer solchen, in der Zukunft spielenden, Erzählung werden die Menschen von Geburt aus manipuliert und funktionieren wie Automaten, gesteuert durch unerreichbare Intelligenzen.

Jüngste dieser Anti-Utopien ist der gerade in Wien erschienen Roman „Die letzte Kolonie“ des Schweizer Autors Markus Bundi. Er konzipiert eine totalitäre Gesellschaft, deren Mitglieder nach dem „Morus-Gesetz“ Aufgaben und Pflichten erfüllen müssen, aber keine Rechte haben. Auch diese Dystopie verfolgt den Zweck, den Leser aufzurütteln und zu motivieren, alles zu tun, damit dieser negative Zukunftsentwurf nicht Realität wird.

Zu den klassischen Gegen-Utopien gehört der Roman des Sowjetbürgers Jewgenij  Iwanowitsch Samjatin „Wir“, der – 1924 in USA erstmals  veröffentlicht – zum Bruch mit seinen bisherigen Parteigenossen in der KPdSU führte. Der Engländer Aldeous Huxley brachte seinen Roman „Schöne Neue Welt“ 1932 heraus, in dem die amerikanische Wohlstandsgesellschaft der beginnenden 30er Jahre mit ihren technischen Erfolgen und ökonomischen Konzentrationsprozessen zum Vorbild seiner Dystopie wurde. Der totalitäre Staat Huxleys finden seine Legitimation im totalen Konsum. Zufriedenheit wird genetisch und chemisch erzeugt.

1949 erschien ein weiterer utopischer Roman aus der Feder eines Engländers, nämlich George Orwells „1984“. Dieses Buch ist die wichtigste Dystopie des 20. Jahrhunderts, hat eine Vielzahl an Auflagen erlebt, wurde in 40 Sprachen übersetzt und insgesamt 30 Millionen Mal verkauft. Seit Generationen gehört „1984“ zum festen Lektüre-Kanon von Schulen in vielen Ländern.

In den Ländern des früheren Warschauer Paktes war das Werk eines der begehrtesten Texte – wahrscheinlich deshalb, weil die Lektüre verboten war. Im Westen nutzten vor allem die besorgten Datenschützer den Roman als Menetekel, um vor dem Missbrauch amtlich erhobener Daten zu warnen.

In diesen Wochen erlebt das Buch ein kleines Wunder. In fünf Verlagen erschienen fünf Neuübersetzungen von „1984“. Dieses kleine Wunder ist dem Ablauf des Urheberrechts in diesem Jahr geschuldet und natürlich auch dem Kalkül der Verleger, mit der eindringlichen Dystonie weiterhin Auflage zu erzielen. Denn tatsächlich kann man für dieses Werk eine neue Aktualität behaupten. Die digitale Welt hat schließlich Probleme erzeugt, von denen Orwell in seinem Roman nicht einmal geträumt hat. Cyber-Angriffe, mit denen feindliche Infrastrukturen einfach ausgeschaltet werden können, gibt es bei Orwell noch nicht und auch nicht Computersoftware, mit der durch Videoaufzeichnungen Personen identifiziert werden können.

Diese Gesichtserkennungssoftware wird vor allem in China genutzt, wo die kommunistische Partrei mit Allmachtsanspruch und kapitalistischer Wohlstandsproduktion schon heute digitale Überwachungstechniken benutzt, deren Wirksamkeit die düstere Fantasie Orwells bei weiten überschreitet. Damit werden nicht nur Minderheiten kontrolliert und schikaniert, sondern auch „Normalbürger“, deren politisches und soziales Wohlverhalten mit einem Punktesystem bewertet wird. Aber auch westliche Demokratien haben in den vergangenen Jahren mit „fake-news“ und „alternativen Realitäten“ z.B. bei der US-Administration von Donald Trump überraschende Erfahrungen machen müssen. Auch jetzt die Debatte über die Pandemie und ihre digitale Bekämpfung verschaffen den Orwell´schen Visionen weitere Aktualität.

Obwohl die erste Übersetzung von „1984“ von Kurt Wagenseil in der 1950 als „einzig berechtigte Lizenzausgabe für Deutschland“ in Diana Verlag Zürich erschienenen Erstausgabe nach wie vor gut lesbar ist, haben sich prominente Übersetzer wie Susanne Fischer,  Lutz-W. Wolff, Frank Herbert Fischer, Eike Schönfeld und Gisbert Haefs ans Werk gemacht, den Text von George Orwell erneut ins Deutsche zu übertragen. Der Autor war, bevor er politisch inspirierende Romane schrieb, Journalist und Reporter, der schnörkellos über das berichtete, was sich ihm aufdrängte. Orwell kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg auf republikanischer Seite mit. Dort gewann er Einsichten über den Umgang der Kommunisten untereinander, die ihn schließlich zu seiner antikommunistischen Gegen-Utopie ührten.

Dass jetzt fünf neue Übertragungen vorliegen, bietet eine neue Chance, dieses Buch in seiner politischen Bedeutung und Sprachgewalt besser zu verstehen. Weil der Roman die Sprache als wichtiges Werkzeug politischer Macht einsetzt, kommt es auf einzelne Wörter an. In der ersten Wagenseil´scher Übersetzung heißt das technische Gerät, das in jeder Wohnung ununterbrochen Propaganda ausstößt und gleichzeitig in Bewohner überwacht „Televisor“. In den neuen Übersetzungen heißt der Apparat „Bildschirm“ (bei Eike Schönfeld) „Teleschirm“ (bei Simone Fischer, Gisbert Haefs und Lutz W. Wolf) und „Telemonitor“ (bei Frank Heribert Fischer).

 Wer heute die Fernsehapparate der neuesten Produktion betrachtet, die computerkompatibel sind und mit einer Videofunktion ausgestattet wurden, kann die Orwell´sche Vorausschau nur bewundern und auch vieles mehr an technischen Voraussagen. Für Orwell ist Technik nur ein Hilfsmittel. Sein Roman will als Warnung vor jeder Art totalitärer Herrschaft verstanden werden.

„Das wirklich Erschreckende am Totalitarismus“, schrieb Orwell 1944, „ist nicht, dass er Gräueltaten begeht, sondern dass er das Konzept der objektiven Wahrheit angreift: er erhebt den Anspruch, sowohl die Vergangenheit wie auch die Zukunft zu bestimmen.“  George Orwell denkt diese Überzeugung mit äußerster Konsequenz in seiner Gegenutopie zu Ende. Die Vergangenheit wird durch das „Wahrheitsministerium“ laufend korrigiert und verfälscht; die Neusprache reduziert die Zahl der erlaubten Wörter und erweitert ihre Bedeutung ins Uferlose. Um noch Denkbares unsagbar zu machen, verkehrt der „Zwiegedanke“ den Sinn von Begriffen in sein Gegenteil.

„Wirklichkeitskontrolle“ nennt Orwell dieses Verfahren. Unterstützt durch einen ungeheuren Überwachungsapparat, durch Gedankenpolizisten und allgegenwärtige Televisoren, die sowohl empfangen als auch senden, soll durch tägliche „Zwei-Minuten-Haß-Sendungen“ erreicht werden, dass die Tatsächlichkeit von Ereignissen sowohl der Gegenwart als auch der Vergangenheit von niemandem festgestellt werden kann. Ziel ist, Wahrheit objektiv unerfahrbar zu machen.

Am Portal des „Wahrheitsministeriums“ ist der „Zwiegedanke“ eingemeißelt: „Krieg bedeutet Frieden“. Dieser „Zwiegedanke“ wird von Orwell auf mehreren Ebenen ausführlich erörtert, um seine aberwitzige Logik zu illustrieren: Die drei totalitären Supermächte Eurasien, Ozeanien und Ostasien befinden sich stets im Krieg. In wechselnden Bündnissen wird die jeweils stärkste Macht bekämpft. Jede der Mächte weiß, dass sie auch in den Bündnissen mit einer zweiten Macht unfähig ist, die dritte zu vernichten. Aber alle Mächte benötigen den immerwährenden Krieg, um die totalitäre Herrschaft nach innen durch die Existenz des äußeren Feindes abzusichern. Frieden heißt dann: ungestörte Ausübung totalitärer Herrschaft. So bekommt der „Zwiegedanke“ – „Krieg bedeutet Frieden“ – einen bizarren Sinn.

Der totalitäre Anschlag auf die empirische Realität ergibt sich für Orwell aus seinem Verständnis der totalitären Macht, für welche die Lüge Konstruktionsprinzip ist. Die Zerstörung der Unterscheidbarkeit zwischen Wahrheit und dem, was als Wahrheit dargestellt wird, ist der große kognitive Triumpf des Totalitarismus.

 Wir haben in den vergangenen Jahren lernen müssen, dass die Zerstörung der Wahrheit nicht allein ein Triumpf des Totalitarismus ist. Auch aktuellen autoritären Staaten und sogar mitteleuropäischen Demokratien, die sich dann illiberal nennen, gelingt es in ihrer Sprache und – was noch schlimmer ist – in ihrer Gesetzgebung den Wahrheitsbegriff zu zertrümmern und mit ihm auch den Wirklichkeitsbegriff zu begraben. Um diese Vorgänge zu durchschauen, lohnt sich die Lektüre von George Orwell „1984“ immer

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